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eine höhere Anerkennung für die Bedeutung der Einzelstaaten,
als wenn jetzt der Ausschuß ohne sachliche Zuständigkeit dann
und wann ad audiendum verbum berufen wird.
Die Verschiebung zeigt sich ferner auch in den einzelnen
Staatsfunktionen.
Von der Gesetzgebung besagt Art. 5 RV., daß sie ausgeübt
wird von Bundesrat und Reichstag, die Uebereinstimmung der
Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen zu einem Reichsge-
setze erforderlich und ausreichend ist. Der Kaiser hat nach
Art. 17 nur die formelle Ausfertigung und die Verkündigung.
Dab die Reichsverfassung dem Kaiser keine positive Mit-
wirkung bei der Gesetzgebung, insbesondere kein Gesetzgebungs-
recht oder, wie man es meist ausdrückt, kein Veto gewährt,
wird oft als Mangel empfunden, ja geradezu als Beweis dafür
hingestellt, daß dem Kaiser eine eigentlich monarchische Gewalt
fehlt. Um so mehr tritt dem gegenüber das Gesetzgebungs- und
Sanktionsrecht des Bundesrates in den Vordergrund und herrscht
in der Theorie des Reichsstaatsrechtes bisher fast unbestritten.
Bei näherer Betrachtung gewinnen die Dinge auch hier eine
ganz andere Gestalt, als der geschriebene Verfassungstext ver-
muten läßt.
Zunächst eine gesetzgeberische Initiative kennt die Reichs-
verfassung nur auf Seiten der beiden gesetzgebenden Körper-
schaften. Die Initiative hat der Bundesrat und in ihm jedes
Bundesglied (Art. 7 Abs. 2 RV.), ebenso der Reichstag und in
ihm jeder Abgeordnete mit der geschäftsordnungsmäßigen Unter-
stützung (Art. 23 RV.). Tatsächlich hat sich daneben eine
kaiserliche Initiative entwickelt, von der der geschriebene Ver-
fassungstext nichts weiß, die aber bei ihrer die des Bundesrates
und des Reichstages weit überragenden Bedeutung bereits als
festes Gewohnheitsrecht angesehen werden kann. Diese kaiser-
liche Initiative hat sich ganz naturgemäß dadurch herausgebildet,
daß die meisten Gesetzentwürfe in den obersten Reichsämtern