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gebung ist, so walten doch gegen ihre Richtigkeit gewichtige Be-
denken ob. Ganz gleichgiltig ist schon die Verkündigungsformel
nicht. Danach ist es der Kaiser, der verordnet mit Zustimmung
von Bundesrat und Reichstag, nicht bloß verkündet, was der
Bundesrat mit Zustimmung des Reichstags verordnet hat. Der
Kaiser erscheint danach als Inhaber des Sanktionsrechtes, Bun-
desrat und Reichstag sind wie Herrenhaus und Abgeordneten-
haus unselbständig zustimmende Faktoren der Gesetzgebung. Und
an der Tatsache, wie der Gesetzgeber selbst sich den Vorgang
der (Gesetzgebung denkt, kann man doch nicht ohne weiteres
vorbeigehen. Die seit Jahrzehnten unangefochten bestehende
Verkündigungsformel hat fast den Wert einer authentischen In-
terpretation der Reichsverfassung über den Inhaber des Sanktions-
rechtes.
Der Kaiser soll trotzdem verpflichtet sein auszufertigen, na-
türlich unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers. Aber zwingen
kann man ihn nicht. Wie nun, wenn der Reichskanzler erklärt,
die Verantwortung nicht übernehmen zu können ? So hat Bis-
marck schon 1882 die Vorlage eines (Gresetzentwurfes über die
Quittungssteuer nach den Beschlüssen des Bundesrates an den
Reichstag verweigert, obgleich ihm dabei bloß die formelle Ueber-
mittlung oblag, und seine Entlassung gefordert. Und im Sommer
1909 ist Fürst Bülow wirklich zurückgetreten, weil er für die
Gesetze der Reichsfinanzreform, wie sie aus den Beschlüssen des
Reichstages hervorgegangen und vom Bundesrate angenommen
war, die Verantwortuug nicht übernehmen wollte. Der Reichs-
kanzler kann also jederzeit die verantwortliche Gegenzeichnung
für eine von den gesetzgebenden Körperschaften angenommene
Gesetzesvorlage ablehnen. Dann muß er, so meint man, seine
Entlassung nehmen. Wenn er es aber nicht tut, oder wenn der
Kaiser die Entlassung ablehnt? Oder wenn sich auch kein an-
derer findet, der die Verantwortung übernehmen will? Es ist ein-
fach graue Theorie, dem Kaiser Sanktion und Veto abzusprechen.