Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 27 (27)

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meindeproporz uns beweist. Das Proportionalwahlrecht schaltet also keines- 
wegs das persönliche Vertrauen aus, sondern weist ihm nur einen seiner 
heutigen Bedeutung entsprechenden, untergeordneten Platz an. Und gerade 
darin liegt m. E. der fortschrittliche Charakter des Proporzes, daß er den 
heutigen sozialen Verhältnissen entsprechend die Klassen- bezw. Parteizu- 
gehörigkeit an erster Stelle betont und erst sekundär das Einzelindividuum 
berücksichtigt. 
Als unglücklich vollends kann der Versuch KunwALups bezeichnet werden, 
die Gegensätzlichkeit des Mehrheits- und Proportionalsystems in einen Gegen- 
satz der fixen und freien Gruppierung umzudeuten. Wenn KUNwALD be- 
hauptet, der Bezirk als organisches Ganzes wähle den Abgeordneten, nicht 
die Einzelwähler, so verwechselt er dabei Prinzip und Form. Man hat das 
Prinzip, daß die Einzelwähler das Wahlrecht ausüben zwar oft durch eine 
ungerechte Wahlkreisgeometrie uns durch ein „Recht der Fläche“ ver- 
dunkeln wollen, daß aber ein Wahlbezirk als organisches Ganzes auch nur 
einen einheitlichen Willen haben könne, ist meines Wissens noch nicht 
ernstlich behauptet worden. Das Prinzip der Mehrheitswahl ist das aus- 
schließliche Recht des Stärkeren, über das auch nicht die rechtliche Fiktion 
hinweghilft, daß der Abgeordnete auch die vertritt, die ihm nicht seine 
Stimme gaben. Die Wahl nach Bezirken ist nichts anderes als eine Form 
der Wahlen, die allerdings das absolute Prinzip der Majorität etwas zu 
modifizieren im Stande ist. Damit fällt aber auch die freie Gruppierung 
als eigentlicher Grundgedanke des Proporzes im Gegensatz zum Majori- 
tätsprinzip weg, denn auch das Majoritätsprinzip schaltet eine freie Gruppie- 
rung nicht aus. Dr. Franz Schneider. 
Donato Donati (Professor des Staatsrechts in Camerino, jetzt in Sassari 
auf Sardinien), IlProblema delle Lacune dell’ Ordina- 
mento giuridico. Societä Editrice Libraria, Milano, 1910. X 
und 267 8. 
Dieses Buch gehört, wenn auch nicht der Sprache, so doch dem Inhalte 
nach der deutschen Rechtsliteratur an. Es behandelt ein Problem, das erst 
durch die Vermittlung der deutschen Rechtswissenschaft vor allem der 
Majettischen Uebersetzung der bekannten Broschüre von GNAEUS FLAVIUS 
(Hermann U. Kantorowiez), in den Gesichtskreis der italienischen Jurispru- 
denz trat, und setzt sich, mit bei einem Ausländer staunenswerter Literatur- 
kenntnis, vorwiegend mit deutschen Autoren auseinander. Es erscheint des- 
halb billig, seinen Gedankengang durch einen kurzen Bericht in unserer 
Sprache auch der deutschen Rechtswissenschaft zugänglicher zu machen. 
I. 
DonaTı geht aus von dem bekannten Dilemma: zwei Grundsätze unserer 
Rechtsordnung: das Rechtsverweigerungsverbot, das den Richter verpflichtet,
	        
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