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Verständnis und Entgegenkommen, und zwar durch das Mittel einer be-
harrlichen und gerechten, aber auch vom sozialpolitischen Empfinden ge-
tragenen Rechtsprechung.“
Indem das RVA. solche soziale Grundstimmungen zu seiner Recht-
sprechung kundgibt, bringt es eine Uebereinstimmung mit den Absichten
des Gesetzgebers zum Ausdruck, die ganz gewiß besonders anzuerkennen
ist. Man darf aber dabei doch auch nicht vergessen, daß Rechtsprechung
zwar Wohltat aber nicht Wohltätigkeit sein soll und daß die allgenieinen
Grundsätze der Objektivität und der Logik auch für die Rechtsprechung
dieses Amtes gelten. In keinem anderen (Gebiete des Rechtes liegt die Ge-
fahr so nahe wie in diesem, daß die Empfänger der Leistungen die Recht-
sprechung dahin drängten, nicht mehr nach Gerechtigkeit sondern nur noch
nach dem Motiv des Wohlwollens und des Mitleides Recht zu sprechen.
Das Amt hat bisher diese Gefahr zu vermeiden gewußt und es an der
nötigen scharfen Abgrenzung der Begriffe im Ganzen nicht fehlen lassen.
Man darf auch nicht vergessen, daß das „soziale Empfinden“ eine konstante
Größe nicht ist und auch niemals werden kann. Es bildet sich jeweils im
Einzelnen wie auch in Aemtern nach den schwankenden Verhältnissen des
wirklichen Lebens und besonders nach den wirklichen Gegensätzen und
der Tonart, in welcher sie sich äußern.
Im Mittelpunkte des Rechtes der Unfallversicherung steht der Begriff
des Betriebsunfalles. In den 25 Jahren des Bestandes der Versicherung
haben Doktrin und Praxis sich bemüht, Elemente und Grenzen dieses Be-
grifis bis zur Haaresschärfe herauszumeiseln. Die Enge oder Weite der
Auffassung desselben ist für die Wirksamkeit der Versicherung in die Breite
von der größten Bedeutung, denn sie erstreckt sich auf Millionen von Ver-
sicherten und auf fast alle Unternehmer, Für das soziale Empfinden ist
hier einiger Bewegungsraum. Das Gesetz selbst gibt nur insofern eine
feste Richtschnur, als Verschulden des Versicherten die Annahme des Un-
falles grundsätzlich nicht ausschließt. Es besteht die unausgesprochene
Grundanschauung, daß Unfallskosten Betriebskosten seien, welche dem Be-
triebsunternehmer zur Last fallen. Ob hiemit der Gesetzgeber über die
Grenze dessen, was dem sozialen Empfinden entspricht, nicht um etwas
hinausgegangen sei, ist hier nicht zu würdigen. Für das RVA. ist die An-
schauung des Gesetzgebers bindend. Das Amt ist denn auch bei der ihn
überlassenen Würdigung des Zusammenhanges zwischen Betrieb und Unfall
und bei Beurteilung der in den Umkreis des Begriffes Betriebsunfall ein-
zuschließenden Gefahren nicht engherzig gewesen. Es zeigte in den ersten
Jahren seiner Spruchpraxis die Neigung, die Gefahren des täglichen Lebens
aus dem Begriff auszuscheiden und die besondere Betriebsgefährlichkeit
allein zur Grundlage des Entschädigungsrechtes zu machen. Die neue
Auflage des Handbuchs berichtet Bd. III S. 536 von Entscheidungen des
RVA., welche in Uebereinstimmung mit dem Reichsgericht den Betriebs-