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inden modernen Kulturstaaten. Eine staatsrechtlich-poli-
tische Abhandlung. Berlin, O. Häring, 1909, 369 S.
Das Werk CAanns hat sich rasch das verdiente Ansehen in Praxis und
Theorie erworben. Neben den grundlegenden Werken von N. SARIPOLOS,
La democratie et l’election proportionelle (Paris 1899) und Krörı, Die Pro-
portionalwahl in der Schweiz (Bern 1901) und neben den trefflichen und füh-
renden Schriften, welche R. SIEGFRIED in Königsberg über diesen Gegenstand
veröffentlicht hat, ist E. CAHuns Buch das Beste, was über das Verhältnis-
wahlsystem geschrieben worden ist. Es ist vor allem das umfassendste und
das einzige systematisch vollständige Werk, welches in deutscher Sprache
über diesen Gegenstand vorhanden ist.
Ehe das Buch im einzelnen gewürdigt werden soll, sei des Charakters
desselben als einer streng wissenschaftlichen Leistung gedacht. Der Gegen-
stand fordert es, daß dies gerade bei diesem Werke besonders zu betonen
ist, denn das Wahlrecht überhaupt und fast alle in ihm enthaltenen Einzel-
probleme stehen mehr als andre Teile des ötfentlichen Rechtes unter dem
Zeichen der Politik und Politik als Wissenschaft ist heute noch — freilich
ganz mit Unrecht -- von vielen Publizisten mit einem Fragezeichen ver-
sehen. Daß Politik nur gemacht, nicht auch gedacht werden könne,
ist ein Glaubenssatz, der aus den Zeiten großer Eroberungen und Umwäl-
zungen stammt und doch im Grunde auch für diese Zeiten nicht wahr ist.
Gerade wer für die Grenzen von Recht und Macht, Staatsrechtswissenschaft
und Politik Sinn hat, der wird in CAnns Schrift Belehrung finden. Dem
Verfasser stehen Schärfe der Begrifisjurisprudenz und politisch wissenschaft-
liches Denken in gleich hohem Maße zur Verfügung, er ist sich bei jedem Ge-
danken bewußt und gibt in jedem Satze zu erkennen, ob er als Jurist oder
als Politiker spricht. So sehen wir das Verhältniswahlsystem in bestimmten
rechtshistorischen Strichen als Theorie und zur Geltung gelangendes Recht
(Zweites Kapitel S. 17 ff.) aus vorher geklärten Begriffen (S. 1 ff.) entstehen,
wir erfahren in sicherer Konstruktion die prinzipiellen Grundlagen des
Systems im Gegensatze zum Absolutismus des reinen Mehrheitsprinzips
(Drittes Kapitel 8. 50 ff.). Ausführlich wird sodann in den folgenden Ka-
piteln die politische Bedeutung (8. 98 ff.), das Anwendungsgebiet (S. 169 ff.)
und die Technik (S. 199 ff.) des Systems erörtert. Daß CAanns Werk nicht
nur auf der Grundlage der Erfahrung, sondern auch auf rationellen Er-
wägungen beruht, daß er eingehende Studien über Wahlen vieler Länder
gemacht, die Literatur des VW.Rechts (deren Verzeichnis S. 361 ff.) in
reichem Maße kritisch benützt und mit annähernder Vollständigkeit das
bestehende Recht gewürdigt und dargestellt hat, sichert demselben den
wissenschaftlichen Dauerwert und verrät, obgleich C. die Technik des V.W.-
Rechtes durch eigene neue Zutaten nicht vermehrt hat — doch auch eine
echte Originalität.
Die leitende Idee, nach der C, sich durchaus für alle Arten von Wahlen
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