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Allein schon seit geraumer Zeit ist diese Lehre bedenklich ins
Wanken gekommen. Zunächst — seit einem energischen Vor-
stoße Bınpıngs -— für den Bereich des Strafprozesses. Einige
Fälle von Strafurteilen schlechterdings unmöglichen Inhalts, nicht
minder aber die theoretische Ueberzeugung, daß die Annahme
einer Urteilsnichtigkeit unabweisbar sei, haben BINDINGas Anre-
gung auf fruchtbaren Boden fallen lassen. Vgl.:
BinDing, Grundriß des deutschen Strafprozeßrechts, 5. Aufl. (1904),
8. 243 ff.
BENNECKE-BELING, Lehrbuch des deutschen Reichs-Strafprozeßrechts,
2. Aufl. (1900), S. 292 ff.
FRIEDLÄNDER, Gerichtssal, Bd. 58 (1901), S. 339 ff.
BELInG in v. HOLTZENDORFF und KOHLERs Enzyklopädie, Bd. 2
(1904), S. 367.
Krug, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 25
(1905), S. 408 ff.
Voss, Archiv für Strafrecht, Bd. 54 (1907), 8. 247 ff.
W, JELLINEK, Der fehlerhafte Staatsakt (1908), S. 119.
ROSENFELD, Der Reichsstrafprozeß, 3. Aufl. (1909), S. 232 ff.
u.a. m.
Nun ist zuzugeben, daß die Frage der absoluten Ürteils-
nichtigkeit für den Zivilprozeß nicht in jeder Beziehung ebenso
wie für den Strafprozeß zu beurteilen ist. Dem steht nicht nur
die Verschiedenheit der die beiden Prozeßarten beherrschenden
Verfahrensmaximen, nicht nur der Unterschied der in dem einen
und in dem andern zu berücksichtigenden Interessen, sondern
auch die in mehrfacher Beziehung wichtige Tatsache entgegen,
daß das positive Recht für den Zivilprozeß in gewissen Fällen
eine Nichtigkeitsklage vorgesehen hat (ZPO. 8 579), die dem
heutigen deutschen Strafprozeß fremd ist. Es gibt ohne Zweifel
Fälle, in denen ein Strafurteil unheilbar nichtig, ein Zivilurteil
dagegen rechtlich gültig ist. Indes das beweist nicht das min-
deste für die Behauptung, das geltende Zivilprozeßrecht habe
die Möglichkeit einer absoluten Unwirksamkeit des Urteils über-
haupt nicht anerkannt. Daß dies aus dem Schweigen des Ge-
setzes nicht gefolgert werden kann, liegt auf der Hand. FBibenso