Literatur.
Betrachtungen über Kelsens Lehre vom Rechtssatz.
Von
Dr. FRIEDRICH TEZNER.
I.
Was Hans KELSEN in seiner jüngst erschienenen umfangreichen Unter-
suchung über die Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der
Lehre von Rechtssatz, unternimmt !, ist nicht bloß ein großes kritisches
Gericht über die hisherigen Theorien von der Rechtsnorm, sondern auch
eine Umwälzung bisher allgemein anerkannter fundamentaler Rechtslehren.
Es braucht nicht hervorgehoben zu werden, daß auch erkenntnistheoretische
Untersuchungen kein bloß theoretisches Dasein zu führen vermögen und
daß es auch gar nicht die Absicht KrELSEns ist, die Praktiker als unzu-
ständiges profanum vulgus abzulehnen ?, daß seine Lehrsätze vielmehr in
wichtigen Punkten Forderungen an das praktische Rechtsleben stellen.
Es sei nun hier von vornherein gesagt, daß wir es trotz der Jugend
des Verfassers mit einem völlig reifen Werk zu tun haben, daß es bei der
Bedeutung des Werkes unangemessen wäre, die Phrase von den Hoffnungen
für die Zukunft. die der Verfasser erweckt, anzubringen, da er die nicht
geringen Erwartungen derer, die ibn kannten, erfüllt hat. Es wird kein Jurist
der um Klarheit über das Wesen seiner Disziplin ringt, achtlos an KELSEN
vorübergehen können.
Die eingehende Würdigung, die ich den Untersuchungen KELSENs an
dieser Stelle widme, sind deshalb nicht etwa ein Zoll der Achtung und der
Freundschaft, die ich für den Verfasser hege, sie entspringt vielmehr
dem von jeder persönlichen Beziehung unabhängigen Bedürfnis, zu der
ı Erschienen bei J. ©. B. Mohr, Tübingen 1911, S. 709.
2 Vgl. a. a. O. S. 42: „Der Standpunkt des Richters ist zugleich der
der theoretischen Juristen dem Gesetzesrechte gegenüber.“
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