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der Richter, durch Verfassungs-Verwaltungsgerichte, Kompetenzkonflikts-
senate, Nichtigkeits-Kraftloserklärungen, Entbindung von Gehorsamspflichten
usw. garantiert sind.
Es leuchtet darum nicht ein, wenn KELSEN die Scheidung zwischen
garantierter und garantierender Norm als einen schweren wissenschaft-
lichen Mißgriff erklärt, da doch diese Normkategorien ihre Eigenart
und ihre relative Selbständigkeit durch die besondere Technik bewähren,
die sie fordern und die zur Spezialisierung der juristischen Disziplinen
nach materiellen und prozessualen Zivil-, Straf- und Verwaltungsrecht,
Exekutionsrecht, Verfassungsrecht, geführt hat. Streng genommen müßte
auch der Rechtssatzbegrifft KrLsens, um vollständig zu sein, alle in
Prozeß-, Exekutions- und Verfassungsrecht bestehenden Garantien des
bedingten Wollens des Staates und alle Bedingungen und Eventualitäten
der Wirksamkeit dieser Garantieen in sich aufnehmen, was über die
Grenzen des menschlichen Zusammenfassungsvermögens hinausgeht.
Ill.
Der Staat wandelt, was noch gegen KELSEN zu beweisen sein wird,
seine Vorstellungen, Zwecke, Ziele und vermag den Uebergang von einem
Ordnungsprinzip zum anderen nur dadurch herzustellen, daß er heute
erklärt, nicht mehr realisieren zu wollen und folgerichtig nicht mehr reali-
sieren zu lassen (Realisierungsverbot), was gestern noch durch ein ganzes
System rechtlicher Schutzvorkehrungen gewährleistet war. Der Staat kann
somit durch Rechtssätze auch ein Nichtwollen und ein ihm entsprechendes
Unterlassensollen erklären. Daß es widersinnig wäre, ein Unterlassen des
Staates durch Rechtssatz zu statuieren, wenn es eines positiven Rechtssatzes
bedarf, den Staat handeln zu lassen %, wäre nur dann richtig, wenn der
Staat nie etwas anderes als Rechtsstaat !* gewesen, wenn nicht die Erin-
12 KELSEN a, a. O., S. 270 fl. Die Genialität des MONTESQUIEUSchen
Systems besteht darin, daß jede seiner Normen zugleich garantierte und
garantierende Norm ist. Rechtssatz ist: Dies sollt Ihr — das sind die
Untertanen — bei Gefahr der Unrechtsbegehung, die schon in der Repro-
bierung durch das Gesetz bestehen kann, tun oder unterlassen. Und
Rechtssatz ist: Ihr — das sind die staatlichen Organe — sollt die Mittel
des Rechtes verwenden, im Rahmen menschlicher Möglichkeit darauf hin-
zuwirken, daß dieses getan, jenes unterlassen werde. In Wahrheit ist der
erste Rechtssatz die Hauptsache, der zweite von akzessorischer, unselb-
ständiger Bedeutung.
8 A, a. O., S. 443, 280, 5832 ff.
1# Das ist derjenige Staat, in dem in die individuelle Rechts-
sphäre nur nach im Vorhinein aufgestellten Rechtssätzen eingegriffen wer-
den darf. KELSEN, S. 465, geht noch weiter: Wo nichts geschehen darf