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ihn das positive Recht liefert, so ist die Forderung KEısEns (S. 703) nach
absoluter Einheit der Konstruktion unerfüllbar. Die positivistische Juris-
prudenz — und eine andere kann es auch nach KELSEN nicht geben — ist
darum die äußerst schwierige Kunst der Inkonsequenz oder die Erkenntnis,
bis zu welchem Punkt dem positiven Recht gemäß die Konsequenz ge-
trieben werden dürfe, wo die eine Rechtsidee zurückzutreten, die andere
einzusetzen, bei welchem Punkt die Logik einzulenken habe. Wenn darum
KELSEN mit unerbittlicher Konsequenz gerade nur die Rechtsstaatsidee
entwickelt, so hört er damit auf, Positivist zu sein und betreibt das von
ihm verpönte Naturrecht oder evolutionistische Staatslehre, von der aus er
zu dem Ergebnis gelangen muß, die Kriegserklärung als verfassungswidrig
zu erklären, wenn eine monarchische Verfassung keine Zuständigkeitsbe-
stimmung hierüber enthält“ und die bedeutsame, dem monarchischen
Prinzip angepaßte Form der Kundmachung der österreichischen Gesetze zu
einer farblosen Formel zu degradieren, die ohne Verletzung des Verfassungs-
rechts durch ihr Gegenstück ersetzt werden könne *. Auch wird KELSENs
bis zur äußersten Konsequenz getriebene Rechtsstaatslehre der Tatsache
nicht gerecht, auf die zunächst LABAND in seinen Wandlungen der deut-
schen Reichsverfassung aufmerksam gemacht hat, und die man regulierende
Macht des Faktischen nannte, die man aber richtiger als Offenbarung des
Rechts durch rechtliche Vorgänge bezeichnen sollte, wie denn z. B. die
österreichisch-ungarische Monarchie auch dann Rechtsbestand besäße, wenn
BENATZIK mit seiner Behauptung, daß ihre Konstituierung formal ** miß-
glückt sei, Recht hätte.
tische Sanktion habe mit allen ihren Widersprüchen doch schon andert-
halb Jahrhunderte vorgehalten. Vgl. ferner die Charakteristik des englischen
Verfassungsrechts durch PaLeyY bei FıscHEL, Die Verfassung Englands
(1862), S. 2. Teznwer, Annalen 1902, S. 653 ff,, dann HEGELS Urteil bei
BLunTscaLlı. Geschichte der neueren Staatswissenschaft z. A. 1881, S. 621.
48 KELSEN a. a. O., S.502. Danaclı begeht der Kaiser von Oesterreich Ver-
fassungswidrigkeiten, wenn er aus der ständischen und absolutistischen Epoche
stammende, durch die konstitutionelle Verfassung nicht aufgehobene, aber
durch Rechtssätze nicht festgelegte Zuständigkeiten ausübt, z. B. Festungen
anlegt, Gesandte beglaubigt und empfängt, Disziplinargewalt über die Mit-
glieder der kaiserlichen Familie übt, Dörfer und Märkte zu Städten erhebt,
die Aenderung von Städtenamen, Gnadengaben bewilligt, das Jus exclusive
übt usw. TezneER, Der Kaiser, S. 22 ff., 29.
“ A. a. 0. S. 418.
“48% 'TgznER, Der Kaiser, S. 288 f. Die Konsequenz wäre dann freilich,
da der Kaiser zwischen der Erhaltung der Monarchie und der Restauration
der. Verfassung Ungarns ein Junktim hergestellt hat, daß die Restauration
gescheitert ist.