— 373 —
1856—1866, 14 Bde. Der heutigen Generation ist er mehr in der Erinnerung
als Politiker aus seiner Tätigkeit als Abgeordneter in der zweiten
badischen Kammer und im Parlament in Frankfurt 1848/49. Seine staats-
rechtlichen Lehren sind, wie der Verfasser der vorliegenden Schrift selbst
anerkennt, veraltet und ohne nachhaltige Wirkung geblieben; für eine
historische Betrachtung aber scheinen sie unserem Verfasser besonders in-
teressant, in ihnen tritt das ganze Ringen der Zeit besonders deutlich ent-
gegen, sie zeigen, welche Bedenken die einzelnen Probleme für diese Zeit
hatten, wie schwer es ihr wurde, sich aus dem Bannkreis der naturrecht-
lichen Lehre loszureißen und sich zu der modernen Staatsauffassung durch-
zuarbeiten, wie viele Vorurteile hiezu zu überwinden waren, und wie viele
praktische Erfahrungen gemacht werden mußten; sie stellen sich dar als
eine Vermittelung zwischen den großen Systematikern und zugleich als eine
Vermittelung zwischen diesen und der neuen Zeit. Von diesem Standpunkt
aus wird WELCKERS Lehre einer eingehenden Betrachtung und Würdigung
unterzogen und dabei insbesondere sein Verhältnis zu der Naturrechtslehre,
zu den maßgebenden Philosophen, namentlich KANT, SCHELLING, FICHTE,
HEGEL und zu der historischen Schule hervorgehoben. Unter diesen Ge-
sichtspunkten wird in sechs besonderen Abschnitten, S. 7—108, erörtert der
methodische Charakter von WELCKERs Lehre, seine Lehre über die Ent-
wickelung von Recht und Staat, sein Individualismus, seine Auffassung
von den Grundlagen des Staats, vom Zweck des Staats und schließlich seine
organische Staatsauffassung; es würde zu weit führen, in allen diesen Rich-
tungen unsern Verfasser auf seinen Gedankengängen zu begleiten, wir be-
schränken uns darauf, über den Kulminationspunkt der Lehre WELCKERS
seine organische Staatsauffassung, die er in dem modernen
konstitutionellen Rechtsstaat am vollkommensten verwirklicht findet, kurz
folgendes zu bemerken:
Nach WELCKERS Auffassung ist der StaateinlebendigerOrganis-
mus, auf einem lebendigen Willen beruhend, in dem sich Einheit und
Vielheit schroff gegenüberstehen und wieder harmonisch vereint werden.
Der Staat ist für ihn nicht deshalb ein Organismus, weil er auf einer
Naturnotwendigkeit beruht, sondern vielmehr, weil in ihm ein eigenes Leben,
das alle seine Glieder durchdringt und zusammenhält, herrscht. Der Staat
ist notwendige Willenseinheit, nur diese, das lebendige Gesetz
aller, der allgemeine Wille gibt dem Ganzen Leben, Kraft und Einheit, den
einzelnen Kräften Harmonie und Wirksamkeit; im Rechtsstaat kann diese
Willenseinheit nur entstehen durch gemeinschaftliche freie Debereinstimmung
über das, was für alle recht und heilsam ist, durch den allgemeinen Willen
der Bürger, geleitet durch ihre gemeinschaftliche Religion, Moral und
Bildung. Im Staatsleben treten uns zunächst zwei scheinbar widersprechende
Hauptelemente entgegen, 1. eine Vielheit einzelner Menschen, selbständig
freier Individuen, 2. eine Einheit des Staats, eine umfassende einheitliche
25 *