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der Entwicklungskurve zum entgegengesetzten. partikularistischen Pol test-
zustellen sei.
Den Gründen dieser kaum zu bezweifelnden Tatsache nachzugehen,
würde hier zu weit führen. Mag sein, daß das rasche Tempo, in welchem
das Reich sein Gesetzgebungsprogramm des Art. 4 der Reichsverfassung
erfüllt hat, eine gewisse Ermüdung hervorgebracht hat. Es sind jedoch
sicher auch andere innerpolitische Gründe mit im Spiele; ich möchte sie
zusammenfassend als die Krisis des preußischen Staates be-
zeichnen. Preußen sieht im Reich eine Gemeinschaft von solcher Wucht
und Stärke über sich heranwachsen, daß es seiner politischen Leitung fraglich
erscheint, ob die preußische Führung in dieser Gemeinschaft auf die Dauer
nicht bedroht werde. Die hohe Wehrlast erzeugt einen Reichsetat, der in
der Höhe seiner Endziffern dem preußischen Staatsetat sich rapid nähert.
Die Reichsämter bauen sich über den preußischen Resorts als eine immer
mächtiger anwachsende Bureaukratie auf und nicht zuletzt wird auch für die
innere Staatsordnung Preußens, namentlich für die Gestaltung seines Wahl-
rechtes die vom Reich ausgehende Propaganda für das allgemeine
Wahlrecht mit einer gewissen Beklemmung als eine Beschränkung der ge-
wohnten staatlichen Bewegungsfreiheit empfunden. Mit einem Worte: An
Preußen wird die Theorie vom nichtsouveränen Staat im selben Maße fühl-
barer, in dem die Einheitsaufgabe und die Einheitskraft des Reiches wächst.
Preußen trat in das Reich mit einem mindestens vollen Souveränetäts-
bewußtsein ein, sein allmähliches Aufgehen in der Rolle des Untertanstaates
bedeutet für Preußen in der Tat eine Staatskrisis, aus deren mehr oder
minder uneingestandenem Vorhandensein sich eine Reihe von Erscheinungen
erklärt, die man außerhalb Preußens und zum Teil wohl auch innerhalb
der Reichsorgane als „Reaktion“ zu empfinden bekommt.
Die kommenden Jahre, vielleicht schon die nächste Reichstagswahl
werden diese bisher noch von wenigen in ihrer wahren Bedeutung erkannten
Zeichen deutlicher machen.
In den mittleren und kleineren Staaten des Reichs sind natürlich die
Augen der partikularistisch interessierten Kreise scharf auf das preußische
Steuer gerichtet und man kann zuversichtlich darauf rechnen, daß für jede
partikularistische Karte, welche Preußen auszuspielen gesonnen ist, in den
kleineren Staaten die entsprechenden Trümpfe schon in Reserve gehalten
und zurechtgesteckt werden. Der Wandel der Gesinnung ist ebenso bedauer-
lich, wie er begreiflich ist. Es gäbe Dinge genug, die der einheitlichen
Ordnung und Leitung dringend bedürften, an die aber aus jener Sorge um
den preußischen und um manchen anderen deutschen „souveränen“ Staat
heute niemand zu rühren wagt. Man denke nur z. B.,, daß einer es ver-
suchte, ein Reichs-Universitätengesetz in Vorschlag zu bringen, um nur die
Abstellung der offenbarsten Mängel und Ungleichmäßigkeiten des Universi-
tätswesens anzubahnen, welchen Hagel der Entrüstung würde er von seiten der