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Diese Frage ist nur auf dem Wege einer systematischen
Auslegung zu beantworten.
IV.
Das Ziel einer systematischen Interpretation besteht darin,
den Sinn eines Gesetzes aus dem Verhältnis desselben zu dem
gesamten Normensystem aufzudecken, zu welchem es gehört.
Dieses ist die grundlegende Interpretationsmethode; das Gesetz
ist aus dem Gesetze selbst zu verstehen, da nur dieses, nicht
aber die ihm vorausgegangenen Verhandlungen für die Bevölkerung
und die Staatsorgane verbindlich ist.
Alle sog. Materialien haben bloß die Bedeutung von Hilfs-
mitteln. Eine systematische Interpretation zu ersetzen sind sie
keineswegs im Stande °?®. Dieses ist heutzutage allgemein aner-
kannt ?®, Doch ist damit die Frage, wie das Gesetz zu inter-
pretieren sei, noch nicht endgültig entschieden, da eine gramma-
tikalische und logische Interpretation meistens unzureichend
ist. Sie vermögen wohl den Sinn der Worte und ihren Zu-
sammenhang aufzudecken, doch bleibt dabei der wahre Inhalt
des Gesetzes häufig verborgen. In der Tat kann die Anzahl
von Beziehungen, welche von einem Gesetzesartikel normiert
werden, unendlich groß sein und, was besonders wichtig, kann infolge
Veränderungen öffentlicher und politischer Lebensbedingungen
auch selbst noch Veränderungen unterliegen. Rechtsnormen wer-
den zur Befriedigung bestimmter sozialer Bedürfnisse ins Leben
2: Die Gründe, weshalb der Gesetzgeber speziell diese oder jene Text-
fassung gewählt hat, sind nicht immer klar. Die Absichten, die er dabei
verfolgte, können ganz andere sein wie die, welche in den Motiven zum
Gesetz dargelegt sind. So bemerkt WachH, Handbuch des deutschen Zivil-
prozeßrechtes, 1885, S. 283, „die Materialien sind ein urkundliches Zeugnis
über die Geschichte des Gesetzes; in ihnen erschließen sich die tatsächlichen
kausalen Vorstellungen der intellektuellen Urheber des Gesetzes, auch die
verschiedensten Irrtümer können sie beherrschen. Es kann ihnen der wahre
Inhalt des Gesetzes verborgen geblieben sein“.
23 Ueber die Bedeutung der Gesetzesmotive siehe SAxL, Materialien
und Gesetz, 2. Aufl., Berl. 1907 und die bei ihm angeführte Literatur.
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