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zugleich die Verantwortlichkeit des kontrasignierenden Mini-
sters für Abweichungen vom Gesetz festsetzen. Dieses Bei-
spiel zeigt klar, wie unter dem Einflusse der politischen und
sozialen Atmosphäre, in welcher eine Norm zu wirken hat, sich
ihr Inhalt verändern kann ?5 ®*,
Der veränderliche Charakter der Normen bestimmt auch den
Charakter ihrer Auslegung. Letztere soll die Norm nicht
isolieren, indem sie dieselbe lediglich als Selbstzweck ansieht.
Die Natur und der Sinn einer Norm kann, nach allgemein an-
erkannter Regel, nur im Zusammenhang mit dem gesamten im
gegebenen Moment geltenden Rechtssystem verstanden werden ?”.
?5 Man könnte eine ganze Reihe von Begriffen anführen, die mit der
Reformierung der russischen Staatsordnung ihren Inhalt geändert haheu,
z. B. „Staatsgrundgesetze“, „Ministerrat“ usw.
?°* Das erkennt auch v. RAISON an, op. cit., 8.85... „Es kann geschehen,
daß eine Rechtsnorm, ohne sich äußerlich zu verändern, einen neuen Inhalt
erhält, mit andern Worten, daß ein Rechtsinstitut seine Bedeutung ändert“
— und führt selbst mehrere Beispiele dafür an. „Aber, so fährt er fort,
ın allen solchen Fällen findet sich im Gesetz ein Hinweis darauf, was unter
dem betreffenden Terminus zu verstehen ist, weshalb es nicht schwer fällt,
den wahren Sinn desselben zu bestimmen. Falls jedoch im Gesetz kein
derartiger Hinweis vorhanden sein sollte, so ist, solange nicht das Gegenteil
bewiesen ıst, anzunehmen, daß einem älteren Gesetz entlehnte Ausdrücke
auch im neuen Gesetz ihre frühere Bedeutung behalten haben“, ibid. 87. Die
Frage muß jedoch bedeutend allgemeiner formuliert werden. Es handelt
sich nicht bloß um den bedingten Sinn dieses oder jenes Gesetzesaus-
druckes, sondern um den ganzen Inhalt der betreffenden Norm. Das Fak-
tum einer Inhaltsänderung einer Norm (oder eines Terminus) kann mög-
licherweise überhaupt im Gesetz nicht erwähnt sein, ja dem Gesetzgeber
dieses garnicht zum Bewußtsein gelangt sein. Dessen ungeachtet hat die
Norm ihre frühere Bedeutung verloren und eine neue erhalten. Entschei-
dend ist nur die Stellung, welche die Norm in der gesamten Oekonomie
der neuen Rechtsinstitute einnimmt, nicht aber die zufällige Registrierung
von seiten des Gesetzgebers einer vollendeten Tatsache. In den Staats-
grundgesetzen vom 23. April 1906 ist der Sinn des Ausdrucks „Kontra-
signatur“ nicht speziell erklärt; trotzdem unterliegt es nicht dem geringsten
Zweifel, daß er hier eine andere Bedeutung hat als in Art. 214, B. I des
Swod Sakonow, Ausg. 1892.
27 SAXL, op. cit., 8. 33, die jetzt in der Doktrin allgemein angenommene