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der sogenannte revolutionäre Pazifismus gewesen. Ueberhaupt scheint uns,
daß der Verfasser dem modernen, teils ökonomisch, teils ethisch bedingten
Internationalismus und Pazifismus eine größere Berücksichtigung hätte an-
gedeihen lassen können. Die vierte Richtung, welche DEL VECccHIO als die
rechtliche bezeichnet, geht zurück auf die Staats- und Rechtsphilosophie
von Rousseau und Kant. Der Grundgedanke dieser Auffassung ist der,
daß der Friede nur einen Wert besitzt, sofern er auf der Gerechtigkeit
aufgebaut ist. Der Friede um des Friedens willen, also unter Umständen
unter Aufrechterhaltung rechtswidriger und ungerechter Verhältnisse, ist
nicht nur kein Ideal, sondern geradezu für die Entwicklung der Menschheit
gefährlich. Damit ein Friede stabil sein kann, muß sowohl im Innern der
Staaten, wie auch in den Beziehungen der Staaten unter sich die Gerechtig-
keit verwirklicht sein. Aehnlich wie Rousseau die Anerkennung der un-
veräußerlichen Rechte der Menschen, der Rechte der Gleichheit und der
Freiheit, als die Voraussetzung jedes rationalen Verfassungssystems ansah,
so muß auch, ehe der Friede unter den Staaten als etwas Ideales betrachtet
werden kann, die Gerechtigkeit in den Staaten und zwischen ihnen ver-
wirklicht werden. DEL VECCHIO ist aber nun nicht der Ansicht, dafs dieses
rechtliche Friedensideal lediglich den Wert eines ethischen Postulates habe.
Er erblickt vielmehr in der modernen Entwicklung der zwischenstaatlichen
Beziehungen eine beständige Verstärkung des Rechtsprinzips, teils dadurch,
daß sich die Idee des Rechts mehr und mehr als positives soziales Ideal
durchsetzt, teils dadurch, daß infolge der wirtschaftlichen Interdependenz
der Staaten und des Hinübergreifens gesellschaftlicher Beziehungen über
die Grenzen der Staaten die Notwendigkeit und Möglichkeit der Krieg-
führung fortwährend eingeschränkt wird. Die Anerkennung rechtlicher
Normen für den Krieg ist nach Auffassung des Verfassers ein bedeutsames
Zeugnis für diese Durchsetzung des Rechtsbegriffes in der Staatenwelt; DEL
VECCHIO glaubt den Krieg im modernen Völkerleben als eine Art Prozeß
zur Verwirklichung von Rechten betrachten zu sollen. Soweit der Krieg
lediglich zur Durchsetzung des Rechtes dient, ist er, sofern wenigstens nur
auf diesem Wege das Recht und damit die Gerechtigkeit sich verwirklichen
kann, ethisch wertvoll, denn er dient dann dazu, den Zustand der Gerechtig-
keit herbeizuführen und damit die Grundlage für die Kriege zu entziehen.
Der Krieg kann also selbst ein Mittel sein zum Frieden, nicht nur zum
vorübergehenden Frieden unter einzelnen Staaten, sondern zur Verwirk-
lichung des Menschheitsideals, der Gerechtigkeit, das die Grundlage eines
dauernden Friedens ist.
Es ist DEL VeEccHıo darin beizustimmen, daß Krieg und Frieden nicht
als isolierte Tatsachen, sondern in ihrem Zusammenhang mit der ganzen
Entwicklung der Kultur betrachtet werden müssen. Daß der Friede nur
unter der Voraussetzung des Bestehens eines richtigen Rechtes Sinn und
Wert hat, ist eine Anschauung, die im modernen Pazifismus, ganz besonders