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Grundzüge des ägyptischen Staatsrechts, von Michele
Sayur. Breslau, J. M. Kerns Verlag: 1909. VII und 56 8. 8°.
In fast allen wesentlichen und nebensächlichen Punkten ist diese Dar-
stellung des ägyptischen Staatsrechts falsch, dabei widerspruchsvoll, un-
systematisch, unbeholfen in der Form und überlastet mit anspruchsvollem
Vortrag der eigenen, irrelevanten oder abwegigen Ansichten des Verfas-
sers. Wie das ältere Werk GRÜNAUS über die staats- und völkerrechtliche
Stellung Aegyptens stellt sich SAYUR auf den unhaltbaren Standpunkt wört-
licher Anerkennung der türkischen Firmane für die Khedive von Aegypten
und muß schon dadurch zu einem den geltenden Verfassungszuständen
widersprechenden Ergebnis kommen. Aber GRÜNAU schrieb wenigstens
gut, sodaß seine historischen Ausführungen heute noch Beachtuug verdie-
nen, und hatte sich an Ort und Stelle ein wenig zu orientieren versucht.
SAYUR hat sich nicht einmal die Mühe gegeben, die geltenden Verfassungs-
grundgesetze Aegyptens anzusehen. Er ergeht sich S. 35 in langen Kom-
binationen über die ägyptische Staatsangehörigkeit, da ein Staatsange-
hörigkeitsgesetz bis jetzt noch nicht ergangen sei: das Gesetz ist seit 1900
in Kraft! (vgl. mein „Staatsrecht Aegyptens“, 8. 125). Er kennt nicht die
Gesetzgebung des Jahres 1904, die infolge der bekannten Abmachungen
zwischen Großbritannien und Frankreich und der Zustimmungserklärungen
der Mächte die internationale Staatsschuldenverwaltung Aegyptens, eine der
bemerkenswertesten Errungenschaften des internationalen Rechts und eine
der Grundlagen der modernen staatlichen Entwicklung Aegyptens, auf eine
ganz neue Rechtsbasis stellte; nach SAyYUr (8. 31 f.) hätten wir dort un-
verändert den alten Verfassungszustand des Jahres 1882! Veraltet sind auch
die Ausführungen über die Gerichtsorganisation, die Provinzialverfassung,
die Steuern, die Polizei, das Gebührenwesen. Die Engländer haben nicht
3000 (S. 55), sondern nahezu 4900 Mann englische Truppen im Lande ste-
hen. Irrig ist Punkt für Punkt die Aufzählung der Regierungsrechte des
Khedive, ebenso sind falsch die Feststellungen und Ausführungen über das
Thronfolgerecht, das Titelverleihungsrecht, über den Erwerb des Khedivi-
ates (S. 11), über die Quelle der angeblichen Souveränität des Sultans (S. 10)
usw. usw. — Wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet des internationa-
len Staatsrechts sollten so sein, daß unsere Diplomaten sie mit Vorteil be-
nützen können, wenigstens aber so, daß sie sonstige Interessenten richtig
orientieren. Bedauerlicherweise ist die irreführende Schrift SAYuRs nicht
nur in der Zeitschrift für Völkerrecht und Bundesstaatsrecht, Band III,
kritiklos abgedruckt, sondern seitdem schon wiederholt, z. B. in STRUPP’s
Völkerrechtsfällen, ohne einschränkende Bemerkung als Quelle für das
Staatsrecht Aegyptens zitiert worden!
Czernowitz. Dungern.