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leuchtet hatte, nichts über die russische Verfassung besaßen. Der Autor,
der Lektor am Berliner Orientalischen Seminar ist und in der russischen
Klasse seit vielen Jahren Vorlesungen über russisches Verfassungs- und
Verwaltungsrecht hält, war in besonderer Weise für das Thema berufen.
Er hat es in der Weise gelöst, daß er zu den sogenannten Grundgesetzen
Rußlands im engeren Sinne unter Weglassung des Statuts der Kaiserlichen
Familie einen Kommentar geschrieben hat. Diesem Kommentar geht ein
historischer Teil über die Geschichte der russischen Staatsverfassung voran
und ihm folgt eine gedrängte Darstellung des geltenden russischen Wahl-
rechts für die Reichsduma, während das Wahlrecht für den Reichsrat in
kurzer Weise bei dem Artikel 100 der Verfassungsurkunde, der vom Reichs-
rat spricht, mitbehandelt worden ist.
Dem Verfasser wurde seine Aufgabe dadurch erschwert, daß er einen
jungfräulichen Boden zu beackern hatte und daß ihm wenige Führer auf
seinem Wege vorangegangen waren. Außer dem mehr lehrbuchartig unter
weiter Heranziehung von Analogien aus der ausländischen Wissenschaft
und dem Auslandsrecht geschriebenen Werke von LAZÄRkEwSKI über das
konstitutionelle Recht Rußlands existierten eigentlich nur die verdienst-
vollen Aufsätze von Baron Borıs NOLDE „Umrisse des russischen Verfas-
sungsrechts“, die jetzt in ihrer zweiten Auflage außer den Abhandlungen
über das Notverordnungsrecht und den Ministerrat noch eine dritte über
die Einheit und Unteilbarkeit Rußlands enthalten, wobei besonders die
finnische Frage einen größeren Raum einnimmt.
Ferner lagen in der kurzen Spanne, die das Erscheinen des PALME-
schen Buches von dem Erlaß der Verfassungsurkunde trennt, wenige
Präzedenzen vor, die streitige Auslegungsfragen hätten beleuchten können;
das Material über die Entstehungsgeschichte der Verfassung ist vorläufig
der Oeffentlichkeit mit geringen Ausnahmen nicht bekannt, es konnte also
nur die Aufgabe PALMES sein, in seinem Kommentar zu den Grundgesetzen
die großen Probleme der Auslegung, die an sich gegeben waren, festzu-
stellen und seinerseits zu ihnen Stellung zu nehmen. Er hat dies in um-
sichtiger und klarer Weise getan. Wo er von der juristischen Interpreta-
tion von Verfassungsbestimmungen zur Wertung ihrer politischen Bedeutung
übergeht, tut er dies, wie mir scheint, ohne Voreingenommenheit und mit
einem Blick für das Wesentliche. _
Den interessanteren Problemen des russischen Verfassungsrechts, das
sich bekanntlich in vielen Punkten in eigenartiger Weise von den west-
europäischen Konstitutionen unterscheidet, hat PALME größeren Raum ein-
geräumt; ich erwähne unter anderem den Notverordnungsparagraph 87,
dessen Geschichte in Rußland wohl noch nicht abgeschlossen ist und dessen
Anwendung durch den getöteten Ministerpräsidenten Stolypin in der
jüngsten Vergangenheit so viel Aufregung hervorgerufen hat. Leider
konnten weder Baron NoLDE noch PALME zu den Ereignissen Stellung