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durchführen; bei jedem Versuch dazu trat sofort ihre innere Unwahrheit
und ihr Widerspruch mit der Wirklichkeit zutage. Der Punkt, an welchem
dies zuerst und mit voller Schärfe sich geltend machte, war das reprä-
sentative Prinzip. Die Nationalversammlung machte Gesetze und legte
ihnen verbindliche Kraft für das ganze Volk bei, aber mit welchem Recht?
Die Abgeordneten sind nicht an ein imperatives Mandat gebunden; sie
stimmen frei nach ihrer persönlichen Ueberzeugung. Wie verträgt sich
dies mit dem zum Erlaß von Rechtssätzen allein befugten Gemeinwillen
aller Volksgenossen? Und wenn man auch für die konstituierende Natio-
nalversammlung eine Ausnahme konstruierte, wie war die Einrichtung eines
dauernden Gesetzgebungsorgans nach dem repräsentativen Prinzip
der Theorie vom „Gemeinwillen“ gegenüber zu rechtfertigen? An diesem
Punkte erfolgte der entscheidende Bruch der Nationalversammlung mit den
Lehren RouUSSEAUs; dadurch wurde der geistige Bann gebrochen. Es ent-
wickelt sich nun fortlaufend bei allen grundlegenden Fragen, der Stellung
des Königs, der Faktoren der Gesetzgebung, dem Wahlrecht, der Trennung
der Gewalten usw. ein Kampf der Ansichten zwischen den unentwegten
Anhängern der LocKE-ROUssEAUschen Theorien und den Vertretern der den
praktischen staatlichen Bedürfnissen entsprechenden Anschauungen. Dieser
Kampf wird mit der größten Feinheit, unübertrefflichem Scharfsinn und
bewunderungswürdiger Beredsamkeit geführt. „Er steht noch — wie der
Verfasser sagt — unter dem Zeichen der für immer verlöschenden Anmut
eines vergangenen Zeitalters. Er wird noch nicht geführt mit der groben
Schneide des Fallbeils; er wird noch geführt mit dem zierlichen Louis XVI-
Degen.“ Das Ende der Verhandlungen besteht regelmäßig darin, daß man
einen scholastischen Weg findet, die aus praktischen Gründen zu fassenden
Beschlüsse mit den RousseAuschen Ideen in einen formellen Einklang zu
bringen, indem man zwischen der Substanz der Staatsgewalt und der Aus-
übung derselben unterscheidet oder eine stillschweigende Genehmigung
der von den repräsentativen Organen gefaßten Beschlüsse seitens des „Ge-
meinwillens“ fingiert. Die Nationalversammlung huldigt theoretisch RoUSs-
SEAU, praktisch beschreitet sie die von MONTESQUIEU gewiesenen Wege.
Der Verfasser stellt diese dialektischen rhetorischen Kämpfe in syste-
matischer folgerichtiger Aufeinanderfolge der staatsrechtlichen Materien mit
sehr zahlreichen und interessanten Belegstellen dar. Der geistige Wider-
streit und der Ausgang desselben spielt sich vor den Augen des Lesers ab;
bisweilen mit dramatischer Anschaulichkeit. Man spürt den geistigen Ein-
fluß, welchen die großen Politiker und Redner jener Zeit gehabt haben
und bewundert ihre politische Einsicht, die freilich nicht imstande war,
das heraufziehende politische Unwetter abzuwenden. Mit großer Kunst
und vollkommener Beherrschung des weitschichtigen Materials und der
staatstheoretischen Literatur weiß der Verfasser diesen Stoff zu gruppieren
und gleichsam ein Doppelbild zu geben von der Verfassung von 1791 und