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gebnis verwirft. Denn HEUSLER gibt uns zum ersten Male einen systema-
tischen Ueberblick über einen großen Teil des Materials, welches die Er-
zählungen enthalten; mit seiner längst erprobten Kunst hebt er dabei auch
die seelischen Grundlagen dieses Strafrechts heraus und gibt sie in einem
schon durch seine stilistische Kunst berückenden Bild wieder. Diese Zu-
sammenfassung wird auch HEUSLERs Gegner stets mit aufrichtigem Dank
benutzen. Ganz anders steht es um das Resultat. HEUSLER hält die Gra-
gas für ein spätes theoretisches Gebilde, das dem Leben nicht entsprach —
schließlich doch nur, wegen ihrer den meisten, nicht allen (man denke an
BrRACTON oder die normanische Somma, an die großen französischen Rechts-
bücher und schließlich auch an den Sachsenspiegel), gleichzeitigen germa-
nischen Quellen gegenüber, so detaillierten Ausgestaltung. Gewiß ist nun
die Gragas die Arbeit von Rechtsgelehrten; aber als solche ist sie durch-
aus nicht detaillierter wie andere Darstellungen nur berufsmäßiger Juris-
prudenz (etwa gerade der BRAcTon). Nicht so liegt die Sache, daß die
Jurisprudenz, weil sie ausführlicher ist, Details erfindet, sondern so, daß
die ungelehrten Verfasser von Rechtsbüchern bis heute eben unfähig sind, die
tatsächlich vorhandenen Details zu schildern und so viel kürzer schreiben.
Im Grunde genommen steht HEUSLERs Anzweifelung der Gragas auf der-
selben Linie, wie die vor 2 Dezennien so modische, jetzt wieder vollständig
überwundene Anzweifelung des S. sp.; denn auch der Umstand, daß solche
juristisch-technischen Darstellungen viel mehr wissen, wie die andern Er-
kenntnismittel, Urkunden und Geschichten, beweist gar nichts gegen ihre Ver-
lässigkeit. So liegt in der Ausführlichkeit der Gragas gar nichts, was gegen
ihre Altertümlichkeit spricht; dabei verstehe ich Altertümlichkeit nur relativ
im Verhältnis zur Sagenliteratur und kann sehr wohl trotzdem der An-
schauung sein, daß die ganze in der Gragas verkörperte Rechtsstufe schon
gegenüber den norwegischen Quellen etwas relativjunges ist. Positiv aber
legt die isländische juristische Ueberlieferung, die offizielle bis zur Heiden-
zeit zurückgehende Fürsorge für die logsaga sehr nahe, daß hier gerade
archaisches Material sich sehr lange unverändert erhalten konnte und noch
in einer Zeit vorgetragen wurde, die zu den praktischen Verhältnissen
nicht mehr paßte. — Sieht man die Punkte an, in denen die Saga von
der Gragas abweicht, so ergibt sich, wie das auch der Verfasser wiederholt
(z. B. S. 74, S. 109, S. 110, S. 144, S. 147) hervorgehoben hat, daß die Saga
gegen die Gragas mit den Angaben der Sturlunga, also der Hauptquelle fürs
Ende des 12. und die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts — derjenigen Zeit,
in der das ganze Rechtswesen des isländischen Freistaats sich vollkommen
zersetzt hat — übereinstimmt. Da ist, meine ich, der Schluß zwingend,
daß die Sagen, die ja alle ehestens im 13. Jahrhundert niedergeschrieben
sind und bei denen ein Traditionsapparat, wie der der logsaga fehlte, die
juristischen Vorgänge im Sinn der Praxis ihrer Zeit sehen, wo eben nicht
ganz feste Ueberlieferungen über Einzelereignisse entgegenstanden. Es