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stand keinerlei Handhabe, dem sogenannten „testament ministeriel‘“, d. h.
der eingerissenen Uebung, die höheren und niederen Beamten der Minister
und Staatssekretäre beim Abgang ihrer Chefs in der gleichen Stellung zu
belassen oder sie gar noch in eine bessere zu befördern, mit wirksamen
Mitteln zu begegnen. Nunmehr bestimmt der freilich nicht gut gefaßte
(vgl. S. 584) Art. 141 die Nichtigkeit jeder Ernennung oder Beförderung
derartiger Personen, die nach der Publikation der Demission des contra-
signierenden Ministers im Journal officiel erfolgt ist. Art. 142 statuiert
die alsbaldige Ausarbeitung eines Reglements mit genauer Festsetzung der
Zahl der beim Minister (bezw. dem Staatssekretär) zu beschäftigenden Be-
amten und verbietet zugleich die Anstellung von Beamten, die nicht die
vorschriftsmäßige Befähigung erlangt haben. Wendet sich diese Bestim-
mung gegen den Brauch, auch nicht durch Examen qualifizierten Personen,
zum Teil sogar unter Bevorzugung, den Zutritt zu den höheren Aemtern
zu verschaffen, so wendet sich jene gegen die Uebung, das Ministerpersonal
auf Kosten des Staates beliebig zu vermehren. Der praktischen Durch-
führbarkeit der hier dargestellten Regelung steht ROLLAND etwas skeptisch
gegenüber, doch erkennt er an, daß jedenfalls ein guter Schritt vorwärts
getan ist, um ein Kardinalübel des französischen Staatslebens zu treffen. —
Die Abtrennung der Leitung des Gefängniswesens von dem Ministerium
des Innern und ihre Zuweisung an den Unterstaatssekretär der Justiz (durch
Dekret vom 13. III. 1911) gibt J. BARTHELEMY Veranlassung, im Zusammen-
hang mit der Prüfung der Legalität dieser Regelung die Entwicklung der
Staatssekretariate, dieser „Ministerien II. Ranges“ von ihrem Anbeginn
(8. 335—379) (1816) an bis zur Gegenwart zu verfolgen. In dem Aufsatz
„sur l’interpretation des lois par le Parlament la retroactivite des lois:
l’Etat et le contrat“ (S. 129—163) wendet er sich gegen die Versuche, Ge-
setze durch Majoritätsbeschluß einer Kammer einseitig interpretieren zu
wollen und verteidigt weiter — m. E. zu Unrecht — die Auffassung, daß
gegenüber den Konzessionen (z. B. von Eisenbahnen) der Staat-Konzedent
an den Konzessionsvertrag im Prinzip unbedingt gebunden sei, d. h. selbst
durch Gesetz eine Abänderung nicht vornehmen dürfe. — Von den
sonstigen Abhandlungen möchte ich neben ERRERAs Arbeit „la personi-
fication civile des Universites de Bruxelles et de Louvain (p. 653—672)
noch auf den recht interessanten Aufsatz von JEZE: „un recueil de la
theorie des actes de gouvernement* (663—684) hinweisen, in dem der Ver-
fasser ein Urteil des Tribunal des conflits behandelt und billigt, das sich
— im konkreten Fall m. E. nicht mit Recht — gegen den Grundsatz
der Staatsraison und die Uebung wendet, Akte der Regierung, insbesondere
diplomatischer Vertreter, durch die Berufung auf diesen Notstand der
richterlichen Prüfung zu entziehen.
Frankfurt a/M. Dr. Karl Strupp.