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Eine Theorie vom natürlichen Recht.
Von
Dr. RUDOLF VON LAUN, a.o. Professor der Universität Wien.
Mit großer Raschheit hat sich in den letzten Jahren in einem
bemerkenswerten Teil der juristischen Literatur, ja auch, wie
es scheint, vielfach in der Praxis, die Ueberzeugung verbreitet,
daß an den theoretischen Grundlagen und an der Methode der
heute herrschenden Rechtswissenschaft und der heute üblichen Art
der Rechtsanwendung nicht alles durchwegs in Ordnung sei und
daß insbesondere außer dem geschriebenen, gesetzten Recht oder
gar statt desselben in weitem Umfang andere Quellen für das
praktische Rechtsleben maßgebend seien oder maßgebend zu sein
haben.
Gar manches, was von einzelnen Vertretern solcher Anschau-
ungen geltend gemacht wird, beruht auf Irrtümern, Oberflächlich-
keiten, Uebertreibungen in den tatsächlichen Annahmen, gar vieles
ist gänzlich unklar und verschwommen oder führt zu Folgerungen,
die der Verfasser selbst nicht zu ziehen wagt. Dazu kommt, daß
nicht wenige Schriftsteller der neuen Bewegung sehr anmaßend
über jeden urteilen, der nicht ihrer Meinung ist. Um so mehr
Beachtung verdienen jene Autoren, welche solche Fehler zu ver-
meiden suchen, welehe ernstes Forschen nach der neuen Richtung
mit der vollen Würdigung und Verwertung des älteren Besitz-
standes der Wissenschaft zu verbinden trachten und welche sich