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Gewalt anwenden kann, ohne daß die Gemeinschaft der anderen
diese Gewaltanwendung innerhalb der Gemeinschaft mißbilligt“
(S. 64). Die Abgrenzung von Recht und Sitte ist daher eine
historisch wechselnde (S. 66). „Unrecht ist, was in einer bestimm-
ten historischen Gemeinschaft als ein derartiger Mangel an Rück-
sichtnahme auf die anderen empfunden wird, daß dieser andere
regelmäßig sich ihn nicht gefallen läßt und mit Gewalt abwehrt“
(S. 67). An die Stelle der privaten Gewaltanwendung tritt später
in den meisten Fällen der Zwang des Staates (Ausnahmen: Not-
wehr, Selbsthilfe) (S. 87, 88). Die Grunderscheinung des Rechts-
lebens ist aber immer die Reaktion des Verletzten (8. 90) und das
Kriterium der Rechtspfliceht ist nicht etwa der staatliche Zwang,
sondern die Tatsache, „daß der einzelne dem einzelnen gegen-
über ein gewisses Verhalten verlangt und mit den ihm zu Gebote
stehenden Mitteln regelmäßig durchsetzt“ (S. 86). Die Tatsache,
„daß im Zusammenleben der Eine vom Andern ein gewisses Maß
von Rücksichtnahme verlangt und im Notfall mit Gewalt zu er-
zwingen sucht“ ist, und dieses bezeichnet JUNG als die wesentlichste
Aufstellung des Buches, „der Geltungsgrund des Rechts und die
Ursache seiner Autorität oder verpflichtenden Kraft“ (S. 316).
Aus diesen Grundauffassnngen ergeben sich eine Reihe von
Folgerungen, welche hauptsächlich auf die Erörterung von drei
Problemen abzielen: erstens die Geltung von Gesetzes- und Ge-
wohnheitsrecht, zweitens die Bedeutung des Präjudiziums, drittens
die Stellung des Richters bei der Entscheidung privatrechtlicher
Streitigkeiten.
Bei schwierigeren Streitfällen ist man häufig nicht imstande,
lediglich aus dem einzelnen Fall zu entscheiden, was Verletzung
ist, die ein Gegenüber sich nicht gefallen zu lassen braucht;
man bedarf des Vergleichsmaterials, um zu sehen, was früher in
ähnlichen Fällen geschah, und greift auf die Tradition (S. 102 ff.).
Ein wiederholtes Verhalten der Genossen begründet nun die Er-
wartung der anderen Genossen, daß dieses Verhalten auch in