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künftigen Fällen werde beobachtet werden. Daher gewinnt schon
die bloße Veränderung des bisherigen Verhaltens den Charakter
einer Verletzung derjenigen, die sich auf den bisherigen Zustand
verließen. Also auch ein Verhalten, das für sich genommen noch
keine Verletzung anderer bedeuten würde, kann durch seinen
historischen Zusammenhang zu einer solchen werden, d.h. zu
etwas, das sich ein anderer nicht gefallen zu lassen braucht
(5.107). So entsteht das „regelhafte* Recht und Unrecht. Die
ältere Form ist das Gewohnheitsrecht. Später werden planmäßig
Gesetze ausgearbeitet, um ein möglichst gleichmäßiges Handeln
der Rechtsgenossen zu erzielen (S. 103). Bleiben aber die formellen
Rechtsquellen sehr stationär und entstehen dadurch große Diffe-
renzen zwischen dem überlieferten und dem unmittelbar empfun-
denen Recht, so kann es allerdings eine Lage geben, in welcher
die in der Abweichung von der Ueberlieferung liegende Verletzung
des einen Interessenten als minder gewichtig empfunden wird
gegenüber dem, was durch die Beibehaltung der Tradition dem
anderen Teil zugemutet wird, wo also die unmittelbare über die
abgeleitete Verletzungsempfindung siegt. „Wo die Verletzung bei
Befolgung des historischen Rechts größer erscheint als die aus
der unvermittelten Einführung neuen Rechts für den anderen
Interessenten sich ergebende Verletzung, da ist geltendes Recht
das, was die schwerere Verletzung verhütet; gelten bedeutet im
letzten Grunde allemal nur ein beherrscht werden der
Gemüter, in denen die maßgebende Verletzungsempfindung
sich bildet“ (8.127). So kommt es auch bei höchstentwickelter
Rechtskultur als eine „wenn man will, abnorme oder patholo-
gische* Erscheinung immer wieder einmal vor, daß „konkrete
Rechtsaussagen inhaltlich in Widerspruch zur vorhandenen all-
gemeinen Regel stehen“ (8. 323).
Das regelhafte Recht ist demnach ein abgeleitetes und seine
Geltung ist eine bedingte (109, 128, 323, 324 u. a.). Die Sicher-
heit der Rechtsordnung wird durch diese Lehre nicht gefährdet;