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der alten und der neuen Rechtsquellentheorie mit Vorliebe an. Die
Vertreter der zweiten weisen darauf hin, daß das Gesetz, wo es
nach „Treu und Glauben“, nach „Billigkeit“, nach der „Verkehrs-
sitte“ zu entscheiden befehle, zugunsten der freien Rechtsfindung
abdiziert habe. Die Anhänger der älteren Anschauung entgegnen,
auch in solchen Fällen sei es doch nichts als der Wille des Gesetzes,
der vollzogen werde. So reden beide Parteien häufig aneinander
vorbei. Die einen fragen, was inhaltlich maßgebend ist oder
zu sein hat, die anderen antworten mit einer Ansicht darüber, von
wem der „Inhalt“, gleichgültig wie er beschaffen ist, formell
ausgehe. Wir können vielleicht sagen, die einen behaupten
materielle Lücken des Rechts, Lücken in den abgeleite-
ten Quellen, die anderen leugnen, daß es formelle Lücken
im Recht, Lücken in den ursprünglichen Quellen, gebe.
Aus dem Erörterten ergibt sich, je nachdem man die materielle
oder die formelle Lückenlosigkeit der Rechtsordnung vor Augen
hat, eine ganz verschiedene Betrachtungsweise und Stellungnahme
zum BRechtsquellenproblem.
1. Die herrschende Rechtsquellentheorie kann die neue Rich-
tung nur durch den Versuch des Nachweises bekämpfen, daß die
vermeintlichen materiellen Lücken in Wahrheit keine Lücken seien,
indem das Gesetz (oder Gewohnheitsrecht) stets einen Maßstab
gewähre, welcher objektiv und eindeutig ein bestimmtes Verhalten
als das allein normgemäße erkennen lasse.
Ein solcher Maßstab ist nun vor allem überall da gegeben,
wo das positive Recht sich lediglich auf Erfahrungs-
sätze stützt (Vgl. über den Begriff der Erfahrungssätze insbe-
sondere F. Stein, Das private Wissen des Richters, 14,16 ff.). Wenn,
um oft gebrauchte Beispiele zu wiederholen, eine Entscheidung
davon abhängt, ob eine Waffe „gefährlich*, eine Betriebsstätte
„gesundheitsschädlich“ sei, so können das bejahende und verneinende
Urteil unmöglich gleich rechtsgemäß sein — von einem einzigen
bestimmten Grenzfall abgesehen, der wie der Nullpunkt zwischen
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