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unendlichen Möglichkeiten der positiven und der negativen Seite
liegt. Es kann sich der „Wille des Gesetzgebers“ zwar ändern,
obwohl der Wortlaut des Gesetzes gleich bleibt, indem sich die
Erfahrungen der Menschheit über die Gefährlichkeit oder Gesund-
heitsschädlichkeit ändern; aber dann tritt an Stelle des alten
Maßstabes ein neuer, das vom „Gesetzgeber“ gewollte Ver-
halten bleibt objektiv eindeutig bestimmbar, ein Zurückgreifen
auf subjektives Rechtsgefühl ist überflüssig und für jeden, der
die Verbindlichkeit des Gesetzes anerkennt, unzulässig. Es würde
zu weit führen, diese Gedankengänge hier näher zu verfolgen. Da-
her sei es gestattet, auf die Ausführungen in meiner Arbeit Das
freie Ermessen und seine Grenzen, 1910?, S. 50 ff. zu verweisen.
Die näheren Beziehungen, in welche die dort verteidigte Theorie
mit der Rechtsquellenbewegung tritt, darzulegen, muß allerdings
einer späteren Publikation überlassen bleiben.
Nun ist es zweifellos möglich, daß ein Gesetz, indem es auf
die „ Verkehrssitte*, auf „Treu und Glauben“ u. dgl. verweist, nur
auf Erfahrungssätze Bezug nimmt und keinen freieren Spiel-
raum gewährt. Wenn dies zutrifft — aber auch nur dann — be-
deutet die Verwendung solcher Ausdrücke nicht, wie JUNG an-
nimmt, eine materielle Rechtslücke und die Verteidiger der herr-
schenden Lehre haben es nicht nötig, zur Konstruktion der formellen
® Ueber diese Arbeit, welche im folgenden noch einigemale zitiert wird,
findet der Leser dieser Zeitschrift eine Rezension im XXVII. Bande, 462 ff.
Vgl. dazu STIER-SOoMLOs Jahrbuch des Verwaltungsrechts, VI, 1. Hälfte,
453. Eine Zusammenstellung weiterer Kritiken und eine kurze Antwort
in einigen wesentlichen Punkten enthält neben anderem mein Aufsatz
Zum Problem des freien Ermessens in der Festschrift für ERNST ZITELMANN
zu seinem 60. Geburtstage, München 1913. Nicht mehr berücksichtigt wer-
den konnten in diesem Aufsatz die Bemerkungen zu dem im Text zitierten
Buch bei WOoDTKE, Der recours pour exc&s de pouvoir, Tübingen 1912,
passim, insbes. 79 ff., bei HOETZEL im Sbornik ved prävnich a stätnich, XII,
70 und in der in vielen Punkten ausgezeichneten Arbeit WALTER JELLINEKS,
Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung, Tübingen, 1913,
passim, insbes. 334 ff.