Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 30 (30)

— 392 — 
sellschaftlichen Erscheinungen, aus denen JUNG das Recht ableitet, 
erklären. 
2. So wenig die Stellungnahme JUNGs zum metaphysischen 
Problem der Willensfreiheit für die rechtsphilosophischen, sozio- 
logischen und rechtsdogmatischen Ausführungen des Buches von 
Bedeutung ist, so sehr ist es seine Ansicht über die psychologische 
Erscheinung, auf welcher er seine ganze Darstellung vom Wesen 
des Rechts aufbaut, über das Rechtsgefühl. Der Verfasser geht 
von der Anschauung aus, daß alle Rechtsgenossen oder doch die 
überwiegende Mehrzahl einer Meinung darüber seien, was man sich 
gefallen lassen müsse und was nicht. Dies trifft nicht einmal auf 
dem Gebiete des bürgerlichen Rechtes, welch letzteres der Autor 
fast ausschließlich im Auge hat, zu. Fast jeder Streit zwischen 
einem Unternehmer und seinem Arbeiter, zwischen einer Hausfrau 
und ihrem Dienstboten belehrt uns darüber, daß in verschiedenen 
Gesellschaftsschichten zum Teil ganz verschiedene Ansichten über 
das, was recht und billig ist, herrschen. Noch viel schärfer sind 
die Gegensätze in vielen Gebieten des öffentlichen Rechts. Nicht 
bloß soziale und wirtschaftliche Unterschiede machen sich geltend, 
sondern auch solche der Rasse und der Religion. Zur Ausfüllung 
vieler Lücken des Staats- und Verwaltungsrechtes in Oesterreich 
oder in Irland würde JUNG vergebens nach einer gemeinsamen 
Rechtsüberzeugung bei Slaven und Deutschen, bei irischen Katho- 
liken und irischen Protesanten suchen. 
Der vorliegenden Arbeit muß demnach dasselbe eingewendet 
werden, was ich der Theorie KORNFELDs (Soziale Machtverhält- 
nisse, 1911) in GRÜNHUTS Zeitschrift, XXXIX, 333, 334, entgegen- 
zuhalten versuchte und was auch vielen anderen ähnlichen Werken 
gegenüber betont werden muß: daß nicht die „Rechtsgenossen*, 
sondern nur die herrschenden Klassen im staatlichen und recht- 
lichen Leben den Ausschlag geben und daß es einen Irrtum oder 
eine Fiktion bedeute, eine einheitliche Ansicht der Rechtsgenossen 
anzunehmen. Meiner Ueberzeugung nach reicht es allerdings zu
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.