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sellschaftlichen Erscheinungen, aus denen JUNG das Recht ableitet,
erklären.
2. So wenig die Stellungnahme JUNGs zum metaphysischen
Problem der Willensfreiheit für die rechtsphilosophischen, sozio-
logischen und rechtsdogmatischen Ausführungen des Buches von
Bedeutung ist, so sehr ist es seine Ansicht über die psychologische
Erscheinung, auf welcher er seine ganze Darstellung vom Wesen
des Rechts aufbaut, über das Rechtsgefühl. Der Verfasser geht
von der Anschauung aus, daß alle Rechtsgenossen oder doch die
überwiegende Mehrzahl einer Meinung darüber seien, was man sich
gefallen lassen müsse und was nicht. Dies trifft nicht einmal auf
dem Gebiete des bürgerlichen Rechtes, welch letzteres der Autor
fast ausschließlich im Auge hat, zu. Fast jeder Streit zwischen
einem Unternehmer und seinem Arbeiter, zwischen einer Hausfrau
und ihrem Dienstboten belehrt uns darüber, daß in verschiedenen
Gesellschaftsschichten zum Teil ganz verschiedene Ansichten über
das, was recht und billig ist, herrschen. Noch viel schärfer sind
die Gegensätze in vielen Gebieten des öffentlichen Rechts. Nicht
bloß soziale und wirtschaftliche Unterschiede machen sich geltend,
sondern auch solche der Rasse und der Religion. Zur Ausfüllung
vieler Lücken des Staats- und Verwaltungsrechtes in Oesterreich
oder in Irland würde JUNG vergebens nach einer gemeinsamen
Rechtsüberzeugung bei Slaven und Deutschen, bei irischen Katho-
liken und irischen Protesanten suchen.
Der vorliegenden Arbeit muß demnach dasselbe eingewendet
werden, was ich der Theorie KORNFELDs (Soziale Machtverhält-
nisse, 1911) in GRÜNHUTS Zeitschrift, XXXIX, 333, 334, entgegen-
zuhalten versuchte und was auch vielen anderen ähnlichen Werken
gegenüber betont werden muß: daß nicht die „Rechtsgenossen*,
sondern nur die herrschenden Klassen im staatlichen und recht-
lichen Leben den Ausschlag geben und daß es einen Irrtum oder
eine Fiktion bedeute, eine einheitliche Ansicht der Rechtsgenossen
anzunehmen. Meiner Ueberzeugung nach reicht es allerdings zu