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seinen Ausführungen als Kronzeugen für seine konforme Auffassung. Die
wichtigste Tatsache aber, daß JELLINEK später, schon in seinen Staats-
fragmenten S. 45, vor allem aber in der II. Auflage seiner Allgemeinen
Staatslehre! seine frühere Anschauung wesentlich modifiziert und insbe-
sondere jede Aenderung der finnländischen Verfassung als Vertragsbruch
qualifiziert hat, wird in einer Anmerkung mit den Worten gestreift:
„Später hat der ehrenwerte Gelehrte seine Ansicht etwas geändert; als er
sie jedoch äußerte, hat er das Gesetz vom 17. Juni 1910 noch nicht im
Auge gehabt.“ Das heißt nicht mehr und nicht weniger als einem der
größten Staatsrechtslehrer aller Zeiten zu supponieren, er hätte dann das
Vorliegen eines Verfassungsbruches von der Hand gewiesen, wenn er das
russische Gesetz, das einschneidend in die finnischen Verhältnisse eingrei-
fend, gerade einen Verfassungsbruch enthält, damals hätte kennen können,
als er die oben dargelegte Ansicht äußerte! —
Nur so viel über das Werk im allgemeinen und über die Ideen, die es
beherrschen. Wenn ich schon oben davon gesprochen habe, daß wir bei
seinem Studium zugleich einen Ausschnitt aus der Kulturgeschichte Ruß-
lands an uns vorüberziehen sehen, so muß ich an dieser Stelle zugleich
mein Bedauern darüber aussprechen, wegen des dieser Besprechung gesteck-
ten Raumes nicht näher auf diese Teile des Werkes eingehen zu können.
Nur das muß gesagt sein, daß das Bild, das der unparteiische Leser vom
heutigen Rußland erhält, noch immer mehr Schatten als Licht aufweist.
Ist auch durch die Ereignisse des Jahres 1905 — die Schaffung einer Kon-
stitution, die Einführung eines Ministerrats nach dem Muster, wie er in
anderen europäischen Staaten besteht — ein bedeutsamer Schritt vorwärts
getan, so beweisen doch andererseits die Judengesetzgebung, der fühlbare
Mangel des Schutzes gegen Verfassungsbrüche durch Schaffung einer Mi-
nisterverantwortlichkeit, die Mangelhaftigkeit des Wahlrechts, die über-
mäßige Bevorzugung des Adels, insbesondere durch das ihm (in seiner Kor-
poration) allein zustehende Petitionsrecht an den Kaiser, die mangelhafte
Schulbildung, ‘um nur einige Beispiele zu nennen, daß in Rußland noch
manches getan werden muß, ehe das Ziel Peter des Großen erreicht ist, sein
Reich auf völlig gleiche Kulturstufe mit den Staaten des Westens zu er-
heben.
Frankfurt a. M. Dr. Karl Strupp.
ı Vgl. S. 641 Note 1: „...... nach der von mir vertretenen Auffas-
sung ist: solches Vorgehen (nämlich Rußlands) als Verfassungsbruch von
seiten Rußlands zu bezeichnen, dies sei ausdrücklich betont, weil man sich
zu meinem Leidwesen in offiziellen russischen Kreisen auf meine Ansichten
zu berufen pflegte, um die verfassungswidrige Unterdrückung Finn-
lands zu rechtfertigen.“