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herzustellen wünscht. Auf diese Weise ist der Grundsatz der
Kompatibilität der österreichischen und ungarischen Staatsbür-
gerschaft eigentlich nichts anderes, als eine, der Theorie des
Bundesstaates, bezw. der „Staatsbürgerschaft der Monar-
chie“, als einer Art des Reichsbürgerrechtes zuerkannte Konzession.
Es muß hervorgehoben werden, daß den seitens des Reichsge-
richtes in staatsbürgerrechtlichen Fragen ausgesprochenen Rechts-
sätzen eine umso größere Bedeutung zukommt, da in Oesterreich
die Staatsbürgerschaft bisher gesetzlich nicht geregelt ist °, und
so sind die in der Praxis des Beichsgerichtes niedergelegten
Rechtssätze berufen, das mangelnde positive Recht zu ersetzen
und die Rechtspraxis in den diesbezüglichen Fragen zu dirigieren.
Im Bewußtsein dieser seiner bedeutsamen Rolle muß nach unserer
Ansicht das Reichsgericht bei Beurteilung jeder einschlägigen
Rechtsfrage mit doppelter Vorsicht vorgehen und streng darauf
achten, nur derartige Rechtssätze zu enunziieren, welche die Rechts-
lage der Staatsbürger zu sichern und die Interessen des prak-
tischen Lebens zu befriedigen geeignet sind.
Das Reichsgericht scheint aber in seinen hier erörterten Ent-
scheidungen auf diese seine Mission vergessen zu haben, als es im
Interesse eines entfernteren und seine Rechtssphäre überschreitenden
Zieles das rechtliche Monstrum der mehrfachen Staatsbürgerschaft
noch mehr in die österreichische Rechtsanschauung einzupflanzen
half, anstatt auf die Eliminierung derselben hingewirkt zu haben.
Fürwahr verrät diese Stellungnahme des Reichsgerichtes eine
5 Art. IV des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867 hat zwar
die Schaffung "eines Gesetzes betreffend die Erwerbung und den Verlust
der Staatsbürgerschaft in Aussicht gestellt, ein solches Gesetz ist aber bis
heute nicht geschaffen worden. In Oesterreich bilden noch heute ver-
streute Rechtsnormen die (Quellen der Regelung der Staatsbürgerschaft ;
die Normen der Erwerbung der Staatsbürgerschaft werden durch das 100-
jährige allgemeine österreichische bürgerliche Gesetzbuch, die Regeln des
Verlustes derselben aber durch das 80jährige Auswanderungspatent be-
stimmt. Die Bestimmungen dieser Rechtsquellen sind aber zum größten
Teile veraltet und werden in der Praxis nicht mehr angewendet.