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Der zeitliche Eintritt der formellen Gesetzes-
kraft der Reichsgesetze.
Von
Dr. WALTHER RAUSCHENBERGER, Frankfurt a. M.
Ein Gesetz kann unter zwei Gesichtspunkten betrachtet wer-
den und daraus ergibt sich ein doppeltes Verhältnis desselben:
1. dasjenige zu den gesetzgebenden Organen,
2. dasjenige zu den Untertanen'!.
Es ist möglich, daß ein Gesetz der Disposition des einzelnen
gesetzgebenden Organs? entzogen ist, ohne doch für die Unter-
tanen verbindlich, ja ohne vollständig vollendet zu sein. Dies
kommt vor in Staaten, in denen mindestens zwei gesetzgebende
Organe vorhanden sind, und andererseits die Rechtsverbindlichkeit
der Gesetze an die Publikation geknüpft ist, die als unfreier Akt
einem dritten Organ zusteht. Wenn in solchen Staaten keines
der gesetzgebenden Organe einseitig sein Votum zurückziehen kann,
so steht die Staatswillenserklärung fest, das Gesetz ist existent,
auch ohne daß dasselbe publiziert ist. Dieser Zeitpunkt kann
aber ebensogut als Eintritt der formellen Gesetzeskraft bezeichnet
werden. Letztere besagt, daß ein im Weg der Gesetzgebung er-
1 vergl. hierüber HÄneL: Das Gesetz im formellen und materiellen
Sinn 8. 159. 87.
2 Unter gesetzgebenden Organen werden hier nur diejenigen verstanden,
von deren freiem Willen das Zustandekommen des Gesetzes abhängt.