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gangener Willensakt des Staates nur auf dem Wege der Gesetz-
gebung wieder aufgehoben und abgeändert werden kann. Daß
das Gesetz tatsächlich in Kraft getreten ist, ist für den Ein-
tritt der formellen Gesetzeskraft nicht erforderlich, da diese gänz-
lich unabhängig ist von der materiellen Gesetzeskraft. Dagegen
ist es im Augenblick der Sanktion rechtlich gewiß, daß das
Gesetz materielle Gesetzeskraft erlangen wird, vorausgesetzt, daß
es verfassungsmäßig zustande gekommen ist. Um in diesem Fall
den Eintritt der materiellen Gesetzeskraft zu verhindern, ist eine
erneute Einigung der gesetzgebenden Organe, also ein erneuter
Gesetzesakt ebenso notwendig, wie zur Beseitigung eines bereits
publizierten oder in Kraft getretenen Gesetzes.
Die formelle Gesetzeskraft tritt ın den deutschen Hansa-
städten durch übereinstimmende Beschlüsse der vollständig gleich-
berechtigten Gesetzgebungsfaktoren, des Senats und der Bürger-
schaft, ein. Da beide Körperschaften die Initiative haben, so gibt
bald der Senat, bald die Bürgerschaft den letzten entscheidenden
Beschluß ab. Das Gesetz wird sodann durch, den Senat publiziert.
Etwas verschieden davon ist die Sachlage in Frankreich und
den Vereinigten Staaten infolge des Rechtes des Präsidenten,
innerhalb eines gewissen Zeitraumes eine Neuberatung des Ge-
setzes durch die Kammern zu verlangen. Wenn in Frankreich
ein Gesetzentwurf vom Senat und der Deputiertenkammer ange-
nommen ist, wird er dem Präsidenten zur Publikation übersandt.
Der Gesetzesentwurf gilt damit als „definitivement adoptee“°. Senat
und Deputiertenkammer können also nicht mehr einseitig von
ihrem Beschluß zurücktreten, sie sind an den Gesetzesentwurf ge-
bunden. Trotzdem hat das Gesetz damit noch nicht die formelle
Gesetzeskraft erlangt. Der Präsident kann innerhalb einer ge-
wissen. Frist eine Neuberatung des Gesetzes fordern. Macht er
von diesem Recht keinen Gebrauch, so tritt die formelle Gesetzes-
® Loi constitutionelle vom 16. Juillet 1875 Art. 7. Abs. 1.