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das Naturrecht charakteristische Sozialkontrakt, wie MEnZEL dartut, auch
von modernen Soziologen verwertet wird, so von FOUILLf, BOURGEOIS und
Huxıey. MENZELs Kritik der einzelnen soziologischen Systeme ist durch-
aus zutreffend und überzeugend. Es gelingt ihm in der Tat, darzutun, „daß
in ihnen politische und moralische Ideen in kaum geringerem Ausmaße
hervortreten, als dies in der naturrechtlichen Doktrin der Fall war. Die
subjektiven Tendenzen der verschiedenen Systeme sind, wenn auch viel-
fach unbewußt, schon bei der Auswahl der entscheidenden Kulturfaktoren
wirksam“ (S.56f.).. Man sollte nun meinen, daß der Verfasser daraus die
Konsequenz zieht, die Soziologie sei geradeso abzulehnen, wie das Natur-
recht. So weit geht er aber nicht. Vielmehr verwahrt er sich dagegen,
daß seine Kritik als Vorwurf aufgefaßt werde. „Die nachgewiesenen
subjektiven Beimischungen ergeben sich als notwendige Begleiterscheinungen
des sozialwissenschaftlichen Denkens“ (S. 59).
Ist dem so, dann verliert allerdings die parallele Behandlung von Natur-
recht und Soziologie wesentlich an Bedeutung und sogar an Berechtigung.
Denn nicht die subjektiven Beimischungen sind es, welche uns zur Ab-
lehnung des Naturrechts veranlassen. Das Naturrecht war auf falschen
Voraussetzungen aufgebaut. Die Annahme des Staatsvertrags beruhte nicht
auf historischer Forschung und war auch nicht eine mit den Ergebnissen
der Geschichtswissenschaft im Einklang stehende Hypothese, sondern ein
Erzeugnis reiner Spekulation. Wir würden das Naturrecht auch dann ver-
werfen, wenn der Staatsvertrag der Subjektivität des Forschers gar keinen
Spielraum ließe, wenn wir also nicht eine Reihe von Naturrechtssystemen,
sondern nur ein einziges zu bekämpfen hätten. Die Soziologie dagegen
hat einen methodisch einwandfreien Ausgangspunkt. Sie ist eine em-
pirische Wissenschaft, sie beobachtet die gesellschaftlichen Erschei-
nungen, und wenn die Ergebnisse der Beobachtung nicht bloß von dem
Gegenstande derselben, sondern auch von der Individualität des Beobachters
abhängen, so liegt der Fehler nicht in der Methode, sondern wir haben es
hier eben mit einer unvermeidlichen Fehlerquelle zu tun. Die Soziologie
teilt in dieser Hinsicht das Schicksal der Geschichte, der Rechtswissen-
schaft, der Philosophie, ganz allgemein gesprochen, der Geistes- oder Kultur-
wissenschaften überhaupt. Dem Gegensatz von „Natur- und Kulturwissen-
schaft“ hat MENnZEL im Jahre 1903 einen gedankenreichen, in der vor-
liegenden Schrift auszugsweise zitierten Vortrag gewidmet. (8. 59 soll es
aber statt „Pflanzenphilosophie“ heißen: „Pflanzenphysiologie‘.) Er hat
darin den engen Zusammenhang zwischen dem Objekt der kulturwissen-
schaftlichen Forschung und dieser Forschung selbst betont. Die Kultur-
wissenschaft wertet und kritisiert die Erscheinungen, die sie beschreibt,
und sie wirkt auch selbst auf diese Erscheinungen ein. Zwischen Staats-
lehre und Staatsgeschichte besteht eine unleugbare Wechselwirkung. Sowie
aber der Staat unter dem Einflusse der Anschauung, die wir von ihm haben,