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Erwägt man, daß unter den Bevollmächtigten, die den Vertrag unter-
zeichnet haben, der italienische Minister Fusinato sich befand, der kurz
vorher in einem Aufsatz in der Rivista di diritto internazionale aufs
schärfste gegen die türkische Auffassung, wie sie in den oben erwähnten
Erlassen vom Oktober 1911 niedergelegt war, polemisiert hatte’, so er-
scheint die Annahme berechtigt, daß jene Formel nur in dem soeben um-
schriebenen Sinn aufgefaßt zu werden braucht, jedenfalls aber keine Not-
wendigkeit dazu gegeben ist, die Suspension sämtlicher rechtsgeschäftlicher
Verträge während der Dauer des Krieges als Völkerrechtssatz aufzustellen ®.
De lege ferenda hat auch PoLıITıs, was hier angemerkt sein mag, dem In-
stitut einen Artikel vorgeschlagen ®, wonach die in Kraft gebliebenen Ver-
träge „dont l’execution demeure, malgre les hostilites, pratiquement
possible, doivent ätre observes de bonne foi“ eine Bestimmung, die nur
insoweit vom Plenum abgeändert worden ist, als man an Stelle „de bonne
foi“ „comme par le passe“ eingesetzt hat!‘ So wird, um einen praktisch
hochbedeutsamen Fall zu nennen, in der Regel m. E. angenommen werden
dürfen, daß ein in einem Vertrag enthaltenes Niederlassungsrecht, d. h.
der Verzicht auf ein an sich jedem Staate zustehendes Ausweisungsrecht,
durch den Krieg nicht ohne weiteres suspendiert wird, eine Aus-
weisung Fremder aus anderen als den auch in Friedenszeiten eine solche
rechtfertigenden Gründen also nur im Falle staatlichen Noistandes !! zu-
lässig ist. —
? 1912, S. 399 (le capitolozioni e la guerra).
8 [Während der Korrektur hinzugefügt]: Nachdem schon auf dem Lon-
doner Friedenskongreß bei Unterzeichnung des Friedens die Delegierten
der Türkei und Griechenland ausdrücklich eine Erklärung abgegeben hatten,
daß alle vor Kriegsausbruch in Kraft gewesenen Verträge und Abkommen,
„qui avaient et& suspendus pendant la guerre* wieder in Kraft treten
sollten und Gesandter Dr. Streit, bekanntlich Mitglied des Institut de droit
international ausdrücklich erklärte, daß die Griechen ihre Bereitwilligkeit
zur Unterzeichnung des Friedensinstruments davon abhängig gemacht hätten,
daß „suivant les principes de la jurisprudence internationale, les traites en
vigueur avant la guerre n’avaient et suspendus que pour le coms de
la guerre“, und nachdem eine dem conforme Bestimmung in das Athener
Friedensinstrument aufgenommen ist, ergibt sich klar die Tendenz der
modernen Staatenpraxis.
® Annuaire XXIV 221.
10 Annuaire XXV 648.
ıı Das Prinzip des staatlichen Notstandes (ein Begriff, der freilich sehr
mit Vorsicht zu behandeln ist) hat von dem Institut Anerkennung gefun-
den. Denn in Art. 4, der von der grundsätzlichen Wirksamkeit gültiger
Verträge auch während des Krieges spricht, heißt es weiter: „Les Etats
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