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sich hier vom legislatorisch-technischen Standpunkt als völlig un-
entbehrlich. Aber noch nicht jede Norm, welche einem öffent-
liehen Organ sprachlich die Wahl zwischen mehreren Arten des
äußeren Verhaltens gewährt, kann als disjunktive Norm in dem
bisher erörterten Sinn betrachtet werden. In meiner Arbeit „Das
freie Ermessen und seine Grenzen“ 1910, und in dem Aufsatz
„Zum Problem des freien Ermessens* in der Festschrift für Zitel-
mann 1913, habe ich zu zeigen versucht, daß das Gesetz dort,
wo es scheinbar eine Freiheit der Wahl zwischen rechtlich gleich-
wertigen Alternativen einräumt, in Wahrheit die Unterordnung unter
einen bestimmten Zweck vorschreiben kann. Dann sind die
mehreren Alternativen rechtlich nicht gleichwertig, diejenige,
welche der Erreichung des vorgeschriebenen Zweckes am besten
dient, ist die einzig rechtsgemäße. Die Norm läßt sich
dann auf eine kategorische Form zurückführen. Wo
dagegen Freiheit der Wahl zwischen rechtlich gleichwer-
tigen Alternativen gewährt ist, das heißt, wo die Freiheit der
Wahl sıch nicht nur auf das äußere Verhalten, sondern auch auf
die Zwecke dieses Verhaltens erstreckt, dort ist die Grund-
form des Rechtssatzes die disjunktive. Schwierigkeiten
der Interpretation lassen uns allerdings häufig im unklaren dar-
über, ob die Rechtsordnung freie Zweckwahl gewähren oder Ge-
bundenheit an einen vorgezeichneten und eindeutig bestimmbaren
Zweck vorschreiben wollte. So erklärt sich die bisher herrschende
und auch noch von einigen Kritikern meiner Theorie zäh festge-
haltene Anschauung, daß es keinen scharfen Gegensatz zwischen
gesetzlicher Gebundenheit und dem sogenannten freien Ermessen
gebe, sondern daß hier ein allmählicher Uebergang zu konstatieren
sei, der keinen Anlaß zu einer Unterscheidung biete. Wer dieser
letzteren Auffassung beipflichtet, wer den Gegensatz zwischen
rechtlich freier Zweckwahl und rechtlicher Gebundenheit im Sinne
meiner Ausführungen leugnet, der leugnet die Bedeu-
tung des Gegensatzes zwischen disjunktiven