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in ihren Bestandteilen aber weitgehend übereinstimmen. Dabei wird
auch hier nicht zu vergessen sein, daß das Recht nur die begriff-
lichen Formen zur Verwertung der Gedanken politischer und staat-
licher Gerechtigkeit gibt. Diese erhalten in den rechtlichen Formen nur
das Maß ihrer Bedeutung, ihr materiell rechtsgedanklicher Gehalt besteht
unabhängig von den Formen. Hält man an der Verschiedenheit dieser
beiden Dinge fest, so wird die Bedeutung der Elemente des ständischen
Staatsrechts für das heutige noch viel weiter zu erstrecken sein. Nur
durch geringe juridische Verschiebungen veränderte Rechtsformen verwirk-
lichen heute vielfach dieselben materiellen Gedanken staatlicher Gerechtig-
keit wie im ständischen Staat: Mitwirkung der Volksvertretung bei Gesetz-
gebung, Finanzverwaltung, Gebietsabtretungen u. dergl.; die Verantwort-
lichkeit der Berater der Krone gegenüber der Volksvertretung war dem
ständischen Staate keineswegs unbekannt; der politische und materielle
Rechtsgedanke, der die alten Staatsrechtslehrer in der ständischen Ver-
fassung die segensreiche Mischung von Monarchie, Aristokratie und Demo-
kratie sehen ließ, ist doch kein anderer als der in der Zusammensetzung der
Parlamente der wichtigsten deutschen Staaten heute verwirklichte, der neben
das in dem Monarchen verkörperte unmittelbare Macht- und Selbstbe-
hauptungsinteresse des Staates das die Interessen der breiten Volksmasse
demokratisch repräsentierende Unterhaus und das „retardierende“ (wirt-
schaftlich, geistig und geburtsständig) aristokratische Element der ersten
Kammer setzt, woran die juristische Fiktion der „Vertretung des ganzen
Volkes“ (die ja übrigens nach der herrschenden Meinung auch keine recht-
liche Bedeutung hat) nichts ändern kann. Und gerade die Tatsache, daß
unsere Staatsrechtswissenschaft in ihrer herrschenden Meinung der wichtig-
sten Erscheinung des konstitutionellen Staatsleben, der Vertretung des
Volkes, einen rechtlichen Gehalt absprechen zu müssen glaubt wesentlich
nur aus der Furcht vor einem Rückfall in die dualistischen Gedankengänge
des ständischen Staates, gibt m. E. genügend Anlaß zu dem Bedenken, ob
nicht die Auffassung von dem Gegensatz zwischen ständischer und kon-
stitutioneller Verfassung unsere Betrachtungsweise einseitig gemacht und
uns so an einem vollen Ueberblick über das Wesen unseres Verfassungs-
lebens und dessen geschichtliche Grundlagen gehindert hat. Vom Stand-
punkte jener Antithese ist es z. B. das Denken des ständischen, nicht des
konstitutionellen Staates, wenn ein neuerer Staatsrechtslehrer aus der Be-
trachtung der Wirklichkeit des Staatslebens zu der Feststellung gelangt,
das preußische Parlament sei nicht nur ein „Organ der gesetzgebenden
Gewalt“, sondern auch „der berufene Hüter der Freiheits- und Bürger-
rechte, also Vertreter der Untertanen gegenüber der gesetzgebenden Ge-
walt“ (BREDT, Die Verfassungsänderung in Preußen 1913 8. 35). Aber wird
diese Feststellung — so wenig sie, was hier nicht zu erörtern ist, im ein-
zelnen einwandsfrei sein mag — nicht den rechtsgedanklichen Gehalt un-