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Dr. K. Marbe, o. ö. Professor und Vorstand des psychologischen Instituts
der Universität Würzburg. Grundzüge der forensischen
Psychologie. Vorlesungen, gehalten im Auftrag des K.b. Staats-
ministeriums der Justiz, während des ersten bayerischen Fortbil-
dungskurses für höhere Justizbeamte zu München im Mai 1913. Mit
8 Textabbildungen und einem Vierfarbendruck. München 1913.
C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck. 120 S.
Das kleine Werk ist klar, übersichtlich und gedrängt geschrieben. Im
Interesse der Strafrechtspflege ist ihm die weiteste Verbreitung zu wünschen.
MARBE will einen Ueberblick über die gesamte Psychologie geben, so-
weit sie für das Gerichtswesen im weistesten Sinne von Bedeutung ist.
Unter Psychologie versteht er dabei die wissenschaftliche, ihre Erkennt-
nisse auf Experiment und Statistik, nicht allein auf die Erfahrung des Le-
bens stützende Psychologie.
Einleitend beschreibt er die Entwicklung dieser Wissenschaft und er-
örtert ihre wichtigsten Begriffe. Hierauf folgt eine Darstellung, wie ver-
schiedene Umstände auf die verbrecherische Willenshandlung einwirken,
so Jahreszeit, Aufenthalt in der Stadt oder auf dem Lande, Beruf, Alkohol,
Lebensalter, Geschlecht, Familienstand. Sie hebt am Schlusse mit Recht
hervor, daß nur der das Verbrechen wirksam bekämpfen könne, der die
Bedingungen seines Zustandekommens kennt. Die Kapitel über die Psy-
chologie der Zeugenaussage und die Gleichförmigkeit des seelischen Ge-
schehens legen überzeugend dar, wie derjenige zu den verhängnisvollsten
Irrtümern gelangen kann, der nur mit der ihm zufällig zu Gebote stehen-
den Erfahrung, d.h. dem berühmten gesunden Menschenverstand, arbeiten
will. Der Abschnitt über das Testsystem eröffnet die erfreuliche Aussicht,
daß wir früher oder später objektive Maßstäbe für die Schätzung der In-
telligenz namentlich unerwachsener Personen, finden werden.
Was MARBE über die Willenshandlung ausführt, wird ihm wobl von
mancher Seite Widerspruch eintragen. Nach MARBE gilt auch für geistige
Vorgänge das sogenannte „korrigierte Kausalgesetz“: alle Vorgänge und
Zustände sind Funktionen anderer sie unmittelbar bedingender Vorgänge
und Zustände, so zwar, daß gleichen unmittelbaren Bedingungen gleiche Vor-
gänge und Zustände entsprechen. MARBE ist also Determinist. Demgegenüber
vergleiche man KOHLERs apodiktische Sätze: „Der Angestiftete kann den
in ihm erregten Sturm von Motiven zurückweisen: tut er es nicht, so wird
er dem Sturm unterliegen; tut er es, so wird der Sturm siegreich zurück-
getrieben. Das eine oder das andere zu tun, das ist sein freier Wille, und
darin waltet er; der Mensch ist daher im Verschulden, wenn er den Sturm
der Motive nicht ableitet; leitet er ihn nicht ab, dann waltet dieser Sturm
nach dem Gesetz der Kausalität! Wenn der Kranke blutet und der Arzt
das Blut nicht stillt, so ist der Arzt als dominus causae kausal, obgleich