Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 34 (34)

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wird diese Kompetenz entweder bejaht auf Grund allgemeiner Rechtsgrund- 
sätze, als logisches und natürliches Attribut der richterlichen Zuständig- 
keiten (U. 8. A., England); in den andern, weil die Verfassung dies aus- 
drücklich vorsieht (Mexiko, Argentinien, Brasilien und andere zentral- und 
südamerikanische Republiken, Portugal). Belgien, Frankreich und die 
Schweiz verweigern durch ausdrückliche Bestimmungen den Gerichten dies- 
bezügliche Kompetenzen. In Italien, dessen Verfassung über diese Frage 
keine Auskunft gibt, ist die Doktrin ziemlich einig, daß den Gerichten das 
Recht der Prüfung der formellen Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu- 
kommt, währenddem die Mehrheit der Rechtsgelehrten für Verneinung der 
materiellen Kompetenz der Gerichte in dieser Sache ist. Und zwar wird 
als Hauptargument immer noch ins Treffen geführt der Grundsatz von der 
Gewaltentrennung, was GRAZIANO aber für theoretisch unrichtig hält. Nach 
seiner Meinung handelt es sich hier überhaupt nicht um einen Konflikt 
zwischen gesetzgebender und richterlicher Gewalt, sondern zwischen ver- 
schiedenen Arten von Gesetzen. Ferner kommt die Erklärung eines Ge- 
setzes als verfassungswidrig, dessen Nichtanwendung, auch nicht der Ab- 
rogation desselben gleich. Wenn der Richter einem verfassungswidrigen 
Gesetz nicht Rechnung trägt und ein subjektives von der Verfassung 
garantiertes Recht durch dasselbe als verletzt erklärt, so bleibt er dabei 
doch noch innerhalb der Grenzen, die von der gesetzgebenden Gewalt der 
Justiz gesteckt sind. Das Recht des Bürgers auf Rechtsschutz bildet für 
die rechtsprechende Gewalt die juristische Basis für das „sindicato costi- 
tuzionale“, als natürliche Attribution ihrer Funktion. Neben diesem Rechts- 
schutz des Bürgers bildet dieses Rechtsinstitut anderseits eine gesunde 
Zensur der Tätigkeit des Parlaments, ohne aber dadurch in die Befugnisse 
des letzteren einzugreifen. Die Anwendung des objektiven Rechts, welche 
Aufgabe und Zweck der Rechtsprechung ist, hat aber als Hauptvoraus- 
setzung die Kognition des Rechts, welche ihrerseits voraussetzt eine historisch- 
kritische Tätigkeit, d. h. die Feststellung der rechtsproduktiven Tatsachen, 
und eine juristische Kritik, d. h. Prüfung der formellen Merkmale, wo diese 
Tatsachen verkleidet sind. Die gesetzgebende Gewalt wird ihrer Funktion 
der Aufstellung der Gesetze und der Aenderung derselben durch das „sin- 
dacato costituzionale“ nicht beraubt. Im Gegenteil wird dadurch die Selbst- 
kontrolle des Parlaments ergänzt. Die Gewaltentrennung ist ja überhaupt 
nicht wörtlich zu nehmen, sondern bedeutet Differenziation der Funktionen 
und funktionelle Autonomie der Staatsorgane, schließt also ein gegensei- 
tiges Mitarbeiten nicht aus. 
Da das Institut des „sindacato costituzionale“ wie jedes andere des 
öffentlichen Rechts mit dem Zentralproblem in Berührung steht, in welchem 
gewissermaßen die ganze historische Evolution der Bechtsfunktion des 
Staates sich widerspiegelt, nämlich dem Gleichgewicht zwischen Individual- 
und Sozialprinzip, den beiden „sozialen Elementarkräften‘*, bringt GRAZIANO
	        
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