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fassungsform des zehnjährigen Konsulats beschlossen haben, wird sie dem
Volk zur Genehmigung vorgelegt. Als nach dem Frieden von Amiens der
Senat die Verlängerung des Konsulats auf weitere 10 Jahre beschließt,
bringt der Staatsrat, obwohl dazu völlig inkompetent, die Frage des lebens-
länglichen Konsulates vor das Volk. Das alte Dogma wird neu belebt, um
dem Ehrgeiz des ersten Konsuln zu dienen. Das Volk wird befragt, weil
es günstiger denkt als der Senat. Aber auch als der Senat am 18. Mai
1804 dem ersten Konsul die Kaiserkrone anbietet, macht Napoleon die An-
nahme der Krone von der Genehmigung des Volkes abhängig. Mag auch
Napoleon Frankreich aus eigener Macht beherrschen, mag er auch den
Senat auf seiner Seite haben, er empfindet immer noch die Notwendigkeit,
seine Herrschaft mit der heiligsten Lehre der Revolution zu versöhnen.
So der Gedankengang des Verfassers.
Diese Skizze wird wohl einen allgemeinen Eindruck von seiner wissen-
schaftlichen Arbeit geben. Die fesselnde Kraft des Werkes liegt darin,
daß sie den Zusammenstoß der Staatstheorie mit der Wirklichkeit beschreibt,
daß sie die gewaltige Gedankenmasse von Jahrhunderten aufstapelt, um
dann zu zeigen, wie sie das wechselvolle, unglückliche, leidenschaftliche,
und oft geniale politische Leben der französischen Nation durchdringt.
Es gibt kein Stück der kontinentalen Verfassungsgeschichte, so lehrreich,
wie die Epoche, die Frankreich von 1789 bis 1871 durchlebte. Es ist die
erhabene Tragödie des spekulativen Denkens in der Politik.
Das Buch von GAUDU gehört zu den wichtigsten Erscheinungen der
neueren Staatsrechtsliteratur. Redslob.
Zur Konstruktion des Völkerrechts.
Unter diesem Titel hat Dr. A. v. Verdreß in der „Zeitschrift
für Völkerrecht“ (Band VIII, S. 329—359) einen sehr interessanten
Aufsatz publiziert. Derselbe stellt sich als ein Versuch dar, die Lehren
der KeLsenschen Rechtstheorie auf ein spezielles Rechtsgebiet — das
Völkerrecht — zu applizieren. Dieser Versuch ist deshalb interessant zu
nennen, weil er als ein Dokument in dem Streite um die Wertlosigkeit
resp. Fruchtbarkeit jener Rechtstheorie angesehen werden kann, welcher
m. E. jedenfalls sehr zugunsten derselben ausgefallen ist. Nach den bis-
herigen literarischen Erörterungen zu schließen, scheinen die wenigsten
Autoren KELSEN und sein Werk gründlich verstanden zu haben. Von
speziellen Untersuchungen wie der von VERDROSS ist für die Klärung der
Ansichten viel zu erwarten und daher nur zu wünschen, daß diesem Ver-
suche bald andere folgen.
Die vorliegenden Bemerkungen haben den Zweck, die Resultate des
VERDROSSschen Aufsatzes vom Standpunkte der KeLsenschen Lehre aus,