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systeme. Dieses Kriterium kann nun grundsätzlich ein doppeltes sein: ent-
weder ist es ein materielles, d.h. in mein Normensystem fallen dann
alle Normen, die, wie z. B. die sog. moralischen, inhaltlich einem gewissen
Prinzipe entsprechen — z. B. neminem laede, imo omnes quantum potes
iuva —-, oder aber ein formales, d. h. der Erkenntnisgrund, daß ein
Ausdruck eines Sollens für mich eine Norm ist, liegt nicht in ihrem In-
halte, sondern in dem Umstande, daß ich ihn auf Grund einer Regel
einem bestimmten Normsubjekte als Träger dieser Norm (z. B. Gott, dem
Staate usw.) zurechne. Normen, die dem Staate als Träger zugerechnet
werden, werden allgemein Rechtsnormen, ihre Gesamtheit Rechts-
ordnung genannt. Wenn diese Rechtsordnung ein einheitliches Norm-
system darstellen soll, so darf allerdings keine Norm, die diesem formalen
Prinzipe nicht entspricht, als Rechtsnorm gelten. Wenn wir also inter-
nationale Normen als Rechtsnormen begreifen wollen, müssen dieselben
dieser Anforderung entsprechen. Aber ähnlich wie es verschiedene Moral-
systeme gibt gibt es auch verschiedene Rechtssysteme. Die Natur des
vereinheitlichenden Prinzips — hier das formale, dort das materielle —
muß zwar dieselbe sein, trotzdem ist aber eine Mehrheit von selbständigen
Systemen derselben Gruppe und deren isolierte Betrachtung möglich, ja
notwendig: so haben wir die österreichische, deutsche, französische usw.
Rechtsordnung, deren jede selbständig, d. h. mit andern Worten souverän
ist. Das normative Erfassen internationaler Normen als Rechtsnormen
scheint aber geradezu diese Souveränität zu gefährden, denn sie sollen
einerseits einer Mehrzahl von selbständigen Normsystemen gemeinsam sein
und andererseits die Träger dieser Systeme — die einzelnen Staaten — recht-
lich binden, d. h. eine Aenderung der einzelnen internationalen Normen
nicht mehr im Belieben der souveränen Rechtsordnungen gelegen sein,
womit mit a. W. ihre Souveränität begrifflich aufgehoben erstheint.
Um nun dieser Konsequenz zu entgehen — über die in der Theorie
des Völkerrechts üblichen abweichenden Versuche vgl. die Abhandlung von
VERDROSS — konstruiert der Verfasser die internationalen Normen als
staatliche Normen kraft Verweisung. „Das Gesetz macht eben kraft.
Verweisung die näher auf internationalem Wege zu bestimmenden Normen
zu den seinigen. Denn das Gesetz braucht ja niemals alles selbst auszu-
sprechen, sondern kann jederzeit andere Normen zu den seinigen erheben.
Nur die gesetzliche Ermächtigung muß vorliegen. Dies ist aber bei den
materiellinhaltlichen Völkerrechtsnormen der Fall, so daß die formale Re-
lation zur Rechtsordnung gegeben ist“ (S. 341). Diese Verweisung, die
sich also offenbar als ein Blankettrechtssatz darstellt, findet der Autor in
den Bestimmungen der einzelnen Verfassungen, wonach „das Staatsober-
haupt Staatsverträge schließen darf“. „Das Völkerrecht wird so zu einem
integrierenden Bestandteile der Rechtsordnungen aller jener Staaten, deren
Verfassungen den Abschluß von Verträgen mit anderen Staaten zulassen,