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und deren zuständige Organe auf Grund dieser Ermächtigung auch Staats-
verträge schließen. Da aber alle zivilisierten Staaten dies tun, so gehören
alle diese der großen Völkerrechtsgemeinschaft an. — Erst so wird
das Völkerrecht als ein zweien, mehreren oder allen Staaten gemeinsames
Recht aufgezeigt“ (S. 341, 342).
Durch diese Konstruktion gelangt dann der Verfasser zu einer ohne
Widerspruch normativ begreifbaren Bindung der Exekutive und Legislative
durch Staatsverträge; auch ist dadurch der — seiner Meinung nach —
„bisher bloß naturrechtlich behauptete Satz: pacta sunt servanda zu einem
logischen Prinzipe des positiven Rechts erhoben“ (S. 347),
Es fragt sich nun, ob diese Konstruktion des Völkerrechts die einzig
mögliche ist resp. ob sie sich tatsächlich als Konsequenz der KELSENschen
Rechtslehre darstellt, als deren Vertreter v. VERDROSS dem ganzen Inhalte
seiner Abhandlung nach angesehen werden muß. Um diese Frage zu be-
antworten, müssen wir vor allem den Begriff der „Rechtsordnung“ näher
umgrenzen. Die Rechtsordnung ist offenbar nichts anderes als die Summe
aller Rechtssätze eines Staates, und der Begriff des Rechtssatzes ist iden-
tisch mit dem Begriff der Rechtsnorm als dem Ausdrucke eines rechtlichen
Sollens.. Nach KzELsen ist nun „das Gesetz die notwendige Form des Rechts-
satzes“ (Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 541). Der Begriff des Ge-
setzes ist aber nichts anderes als eine bestimmte Form, in der eine Norm
erscheint. Diese Form besteht nach konstitutionellem Prinzipe in folgen-
den Momenten: Parlamentsbeschluß (übereinstimmende Beschlüsse beider
Häuser), Sanktion des Monarchen, Promulgation und Publikation
(Hauptprobleme, S. 542). Aus dem Gesagten folgt nun, daß alle anderen
Ausdrücke eines Sollens, die nicht in staatlichen Gesetzen enthalten sind,
nicht unmittelbar als Rechtssätze konstruiert werden können. Eine Rela-
tion zum Rechte erhalten sie nur dadurch, daß ein Gesetz auf sie verweist.
Als der bekannteste Typus dieser Art wären z. B. die Verordnungen der
exekutiven Gewalt zu bezeichnen, deren in einem Sollen bestehender In-
halt die rechtliche Qualifikation lediglich durch ein auf sie verweisendes
Gesetz erhalten kann. Nicht anders kann es sich aber mit Normen ver-
halten, als deren Träger andere Subjekte als der Staat erscheinen, wie
2. B. Gemeinden, Vereine und ähnliche Verbände mit ihren „Statuten“
Ordnungen usw. Gegenüber der eigentlichen, d. h. aus Gesetzen bestehen-
den Rechtsordnung ist also das Vorhandensein solcher in Normenform er-
scheinenden Funktionen nicht anders, als ein Teileines Tatbestandes
zu betrachten, an den der in den Gesetzen enthaltene bedingte Staatswille
geknüpft ist. Sie sind zwar Ausdruck eines Sollens im allgemeinen Sinne
— vgl. z. B. die Vereinsstatuten —, ihre rechtliche Qualität erhalten
sie jedoch nur vermöge der Rechtsordnung, d, h. der in Gesetzesform er-
scheinenden Normen. Ganz dasselbe muß auch bezüglich gewisser Tatbe-
stände gelten, welche nach der üblichen Terminologie als „Rechtsge-