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Rechte geltenden logischen Prinzipes: lex posterior derogat priori. Man
ist aber durchaus nicht gezwungen, gleichzeitig damit die Außerkraftset-
zung der allgemeinen Norm von der notwendigen Zustimmung des zweiten
Staates zu postulieren (ähnlich wie in Oesterreich ein Reichsgesetz, welches
seinem Inhalte nach gleich am Tage seiner Publizierung im Reichsgesetz-
blatte in Kraft treten soll, zwar in Kraft tritt, aber trotzdem die allge-
meine Regel, wonach Reichsgesetze erst 45 Tage nach der Publizierung in
Kraft treten, in Geltung läßt).
Es könnte scheinen, daß die ganze hier aufgeworfene Frage nur eine
» Wortklauberei“ bedeutet. Demgegenüber muß darauf hingewiesen werden,
daß es von großer methodologischer Wichtigkeit ist, den Begriff der
„Rechtsordnung“ genau zu umgrenzen, damit es nicht vorkommen kann,
daß bloße in der äußeren Form von Normen auftretende „Tatbestände“
(wie Verträge, Statuten usw.) als Bestandteile der Rechtsordnung ange-
sehen werden. Andererseits braucht man vor den Konsequenzen der hier
entwickelten Anschauungen, wonach die internationalen Verträge nicht der
Staat als Träger des Rechts, sondern als eine der Rechtsordnung unter-
worfene Rechtsperson schließt und löst, nicht allzusehr zurückzuschrecken.
Nach unserer Konstruktion ist allerdings das „Völkerrecht“ — unter den
oben erwähnten, die Form seines Inhaltes betreffenden Voraussetzungen —
nicht eine Summe von Rechtsnormen, also kein Bestandteil der innerstaat-
lichen Rechtsordnung, die Staatsverträge haben nicht, wie LAMMAScCH kon-
struiert, „volle Gesetzeskraft“ (Die Rechtskraft internationaler Schiedssprüche,
S. 113), — allein sie bleiben geltendes Recht, wenn auch nur in dem Sinne,
als ein gültiger Vertrag zwischen Rechtspersonen, ein gültiges Vereins-
statut usw. „geltendes Recht“ ist. Und ebenso wie man gewöhnt ist, von
einem „Vertragsrecht“ zwischen Parteien, von einem Vereinsrecht usw. zu
sprechen, unterliegt es keinem methodologischen Anstande, auch vom Stand-
punkte unserer Konstruktion von einem „Völkerrechte“ oder „internationa-
lem Rechte“ zu sprechen.
Es seien mir noch zum Schlusse einige allgemeine Bemerkungen ge-
stattet: Die Erkenntnis, daß jegliche juristische Konstruktion von einem
unbewiesenen und unbeweisbaren Punkte ihren Ausgangspunkt zu nehmen
hat, ist eine der wichtigsten, die sich aus KeLsens Rechtslehre ergeben.
Dieser Ausgangspunkt ist gleichbedeutend mit dem letzten Erkenntnisgrund
für die juristische Qualität von Normen. Die Freiheit, diesen Ausgangs-
5 Als eine Folge dieser nicht genügend scharfen begrifflichen Umgren-
zung stellt sich z. B. das von W. JELLINEK in seinem Buche „Gesetz, Ge-
setzanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung® aufgestellte System von
rechtlich relevanten „Tatsachen“ dar, die nach ihm als „rechtsbildende
Faktoren“ anzusehen sind. Vgl. hiezu die ausgezeichnete Rezension von
VERDROSS in der österr. Zeitschrift für öffentliches Recht, I, S. 228—238.