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für den Norminhalt ist, sondern dahin, daß ein brauchbarer
Gegenwartszweck der Norm, das einer geistigen Verbundenheit
entsprossene gesellschaftlich-kollektive Wertur-
teil der heutigen führenden Kulturschicht des Volkes, den Norm-
inhalt maßgebend beeinflußt. Jede wahre Interessen-
Jurisprudenzistalso zugleich und ganz wesent-
lich soziologische Rechtsfindung.
Bei KANTOROWICZ sind diese Zusammenhänge noch nicht
recht gewürdigt; soweit er sie aber berührt, trübt ihm der oben
schon angedeutete Irrtum den Blick®. KANTOROWICZ meint (II,
291 f.), die Interessenwägung gehöre nicht zur Rechtsfrage, son-
dern lediglich zur Tatfrage. Vielleicht haben hier spezifisch
strafrechtliche Vorstellungen auf KANTOROWICZ eingewirkt. Für
das Zivilrecht liegt die Sache jedenfalls anders. Die Interessen-
wägung ist das entscheidende Moment der Normfindung in ab-
stracto (Gesetzesauslegung) und der Normfindung in concreto
(Fallentscheidung), also der Rechtsfrage. Da es aber die eigen-
tümliche Technik unserer Gesetze ist, eine Norm an einen ge-
dachten Tatbestand anzuknüpfen, so kann — bei feststehendem
Inhalt der gesetzlichen Norm — die Interessenwägung durch den
Richter sich, wie ich darlegte, äußerlich betrachtet, auch so
vollziehen, daß der Tatbestand des Gesetzes so oder so, enger
oder weiter verstanden, „ausgelegt“ wird. Mit diesem Verfahren
werden dann für den konkreten Prozeßtatbestand neue Subsumtions-
möglichkeiten geschaffen. Aber damit ist die Interessenwägung
in Wahrheit noch nicht zu einer Tatfrage gemacht, sie bleibt ein
Akt der Normfindung, denn die durch Auslegung erzielte Einengung
oder Erweiterung des gesetzlichen Tatbestandbegriffes wirkt
natürlich zurück auf die angeknüpfte Norm: Sie ändert den
Umfang ihres Herrschaftsbereiches, führt zur Anwendung oder aber
8 Vgl. bereits Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung 8. 32 Anm.],
und meine Ausführungen im Arch f. die ziv. Praxis 110 S. 283.
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