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folge, sondern um Auseinanderfolge, nicht um Umwandlung in
eine neue, sondern um Abwandlung der alten Verfassung. Wo
nichts als Umwandlung, wo eine bloße zeitliche Aufeinanderfolge
und keine gegenseitige Bezogenheit durch den Verfassungsrechts-
satz von der lex posterior zu sehen ist, da erst hebt eine grund-
sätzlich neue Verfassung als Prinzip einer neuen Rechtseinheit an;
da haben wir einen neuen Staat betreten.
Kaum ein wissenschaftliches Prinzip ist so unjuristisch wie
der Entwicklungsgedanke. An den Rechtsinhalt (als das Produkt
eines psychischen und sozialen Prozesses und als das Objekt einer
psychologischen und soziologischen Betrachtung) kann man die
Entwicklungsidee freilich anlegen; aber gerade der Rechtsinhalt
gehört nicht zum Wesen des Rechtes. Eine Entwicklung der
Rechtsform ist aber ausgeschlossen, denn sie hebt die Identität
auf. Ist die Form nicht mehr dieselbe, so ist sie auch schon eine
beziehungslos andere; etwas Drittes, was etwa als Frucht einer
zeitlichen Entwicklung angesprochen werden könnte, gibt es nicht.
Die herrschende Staatslehre ist nun tatsächlich wie eine am
Entwicklungsgedanken orientierte Naturwissenschaft polyzentrisch
eingerichtet; wenn schon nicht so viel Rechtsprinzipien als Ge-
setze, so unterscheidet sie doch so viel Rechtsprinzipien als Ver-
fassungsgesetzgebungen; zwischen diesen sind ihr aber, vielleicht
nicht so sehr in der Sache selbst — denn tatsächlieh werden ja
„verfassungsmäßige“ Verfassungsänderungen, (nur daß nicht jede
im Denkprinzip von der lex posterior begründete Verfassungs-
änderung verfassungsmäßig ist), und verfassungswidrige (Verfas-
sungsbrüche), unterschieden — als vielmehr in den Konsequenzen,
in der Behandlung des auf diese verschiedenen Verfassungen rück-
führbaren Rechtes, keine prinzipiellen Unterschiede gegeben. Die
Verfassungsgeschichte macht ihr gewissermaßen bald große, bald
kleine Schritte. Die Verfassungsentwicklung geht ihr bald in
schwächlichem Vorwärtsrücken, bald in mächtigem Ruck vor sich.
An Stelle der verschiedenen langen Schritte hätte man aber —