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wollte, schwebte doch bei seinem .kühnen Griff“ der selbständigen Ver-
fassungsschöpfung dieses Beispiel vor. Der Entwurf Prruss hat unter
besseren Voraussetzungen, als sie damals gegeben waren. den nämlichen
Gedanken wieder aufgenommen mit seinem „im wesentlichen einheitlichen
Volksstaate, auf das freie Selbstbestimmungsrecht der deutschen Nation in
ihrer Gesamtheit begründet“. Und unser Verfasser? Wie denkt er sich
das Zustandekommen dieser Neuordnung”? Zunächst augenscheinlich in der-
selben Weise, also nach amerikanischem und Frankfurter Vorbild. Der
Eingang seines Verfassungsentwurfes (S. 15) beginnt in absichtlichem An-
klang: „Wir, das deutsche Volk usw., gründen 'einen souveränen Bundes-
staat.“ Der alte „Staat“ (Reich) ist dahin, also gründet man einen neuen.
Aber die „Freistaaten“ sind ja noch lebendig. Die echt republikanische
Idee, daß der Mehrheitswille einer tatsächlich verbundenen Menschenge-
meinschaft schlechthin rechtsverbindlich ist für alles darin Begriffene, des-
halb auch an den darin schon vorhandenen staatlichen Gebilden seiner-
seits keine förmliche Rechtsschranke findet, widerstrebt dem Verfasser. Mit
JELLINFK erkennt er an, daß die Staatsgründung rein tatsächlicher Natur
sei. mit LABAND aber, daß gegenüber bereits vorhandenen Rechtsordnungen
dieser Vorgang einer Beurteilung nach seiner Rechtmäßigkeit unterliegt
(S. 50 und 5l). Um also gegenüber dem Rechte der Freistaaten legitimiert
zu sein, muß die neue Reichsgründung geschehen unter entsprechender
Mitwirkung dieser (S. 51). Deshalb erhält in diesem Verfassungsentwurf
jene nordamerikanische Preambel eine eigentümliche Zutat. Ihr erster
Satz lautet vollständig: „Wir, das deutsche Volk und die sämtlichen
deutschen Freistaaten gründen einen souveränen Bundesstaat.“ Der
Vorgang bekäme hier eine gewisse Aehnlichkeit mit dem vorhin bespro-
chenen Falle, wo ein monarchischer „Bundesstaat“ nach republikanischer
Umwälzung in den verbündeten Einzelstaaten unter Beibehaltung des
föderalistischen Grundzugs. deutlicher gesagt: der Bundesnatur ihrer Ge-
meinschaft, nunmehr entsprechend umgestaltet wird. Manchmal sieht es
ja so aus, als neigten die Dinge wirklich nach dieser Richtung. Mit dem
„einheitlichen Volksstaat“ wäre es dann mehr oder weniger nichts.
In solcher Weise enthält diese Arbeit für die allgemeine wissenschaftliche
Betrachtung mancherlei Anregendes. Wir wollten das bloß an einem heraus-
gegriffenen Beispiel zeigen. 0.M.
Ernst Zitelmann, Die Unvollkommenheit des Völkerrechts,
Rede, gehalten am hundertjährigen Gründungstag der Rheinischen
Friedrich- Wilhelms-Universität zu Bonn, 18. Oktober 1918. als der-
zeitiger Rektor. München und Leipzig, Duncker und Humblot 1919.
60 S,
Ihr Datum ergibt die eigentümliche Stimmung, die auf dieser Rede
liegt: sie ist eine Prunkrede im Trauergewand.