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tragstheorie? Und gilt dasselbe nicht ebensogut von den Absolutisten
Hobbes und Friedrich, die genau so unter dem allmächtigen Einfluß des
Naturrechts standen? Wenn aber R. vielleicht den ersten wissenschaft-
lichen Vertreter jener Theorie in ihrem eigentlichen Sinne herausheben
wollte, so durfte er auch dann nicht Grotius nennen, für dessen System sie
zum mindesten nicht das charakteristische Moment darstellt, selbst einmal ab-
gesehen davon, daß es sehr bestritten ist, w er als erster Repräsentant der Lehre
zu gelten hat. Wohl könnte man dem großen Holländer einen besonderen
Platz anweisen, dann müßte aber nicht das Merkmal des Staatsvertrags.
sondern das der Staatssouveränität (im Gegensatz zur Fürsten- und Volks-
souveränität), wofür R. selbst die entscheidende Belegstelle anführt, die
Rolle der differentia specifica spielen. Um das hier gleich einzufügen:
Die vom Verfasser vorgenommene Auswahl unter der Publizistik des 16.
bis 18. Jahrhunderts gibt ein schiefes Bild. Im ganzen Abschnitt erscheint
nur ein deutscher Theoretiker, Friedrich der Große. Wo bleiben die
ALTHUS, PUFENDORF, LEIBNIZ, um nur die allerbekanntesten Namen zu
nennen? Verfasser hätte bei einem Bossuet und Fenelon getrost Platz er-
übrigen können. um beispielsweise die hochoriginellen Lehren des Severi-
nus a Monzambano „über den Zustand des Deutschen Reichs“ seinen Lesern
nicht vorenthalten zu müssen! — Noch böser werden die Schwierigkeiten
der stofflichen Gliederung im dritten Heft. Hier — also für das 19. Jahr-
hundert — unterscheidet R. vier Staa@auffassungen:: die liberale, die kon-
servative, die sozialistische und — die realistische. Es ist nicht ohne
weiteres klar, was unter der letzten zu versteben ist. Als ihre Vertreter
sprechen das Freundespaar GENTZ und Anam MÜLLER, HEGEL, RanKk,
sowie in skizzierter Fortführung der Entwicklungslinie von den Lebenden
GIERKF und RUDOLF KJELLEN. An der geistigen Arbeit des schwedischen
Staatsrechtslehrers kann man am besten unsere Frage beantworten. Sein
im Vorjahre erschienenes Buch „Der Staat als Lebensform“ (vgl. meinen
gleichnamigen Aufsatz in den Grenzboten 1917, Heft 48) will den Staat
nicht nur rechtlich, sozial und wirtschaftlich begreifen, sondern vor allem
seine „Naturseite* (als Land und Volk) erkennen. Für KJELLEN sind die
Staaten vor allem konkrete Gestalten, tatsächliche Realitäten, „Mächte“
im Sinne der äußeren Politik. Diese „realistische Auffassung“ also eint
die oben genannten Männer; RAnkKes oft zitierte „moralische Energien*,
HEGELs. Staat „als die Wirklichkeit des substanziellen Willens“, sind nur
andere Worte für das, was ADAM MÜLLER „Individuum® nennt und was
sein Freund GENnTz mit dem Blicke des praktischen Staatsmannes als
Kräftezentren in den „Fragmenten aus der neuesten Geschichte des poli-
tischen Gleichgewichts in Europa“ erschaut. Aber schon aus dem bisher
Gesagten ergibt sich das angekündigte Bedenken. Ist es denn möglich.
die realistische Staatsauffassung gleichgeordnet neben die drei parteipoli-
tischen Orientierungen zu stellen? Gehört nicht ein RAnKE in denselben