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Regierung scheute zwar mit Recht davor zurück, solche Dinge in
die Verfassung zu schreiben; doch trifft sie nicht recht, was zu
sagen ist, wenn sie daraus eine Störung der „klaren politischen (!)
Verantwortlichkeit“ besorgt, die sich doch in ihrer Allgegenwart
und Allmacht schon zu helfen weiß®? und an dergleichen äußeren
Schranken keinen Schaden nimmt. Nicht so sehr die unzerstör-
bare tatsächliche politische Verantwortlichkeit aller Beteiligten
läuft dabei Gefahr. sondern höchstens die Vorstellung, welche die
Reichsverfassung von der kollegialen Auseinandersetzung hegt,
wenn sie gleichzeitig das Mehrheitssystem für die Abstimmung
annimmt und mit dieser Einbildung obendrein ein strenges, ernst-
gemeintes Kanzlersystem verbinden will.
Daß hier nicht alles stimmt, bekennt ja jetzt die Verfassung selbst
in dem lebhaft empfundenen Bedürfnis, die Verantwortlichkeit des
Kanzlers von der seiner wichtigsten Mitarbeiter genauestens abzugren-
zen. Diese Art von Kollegialität verlangt es noch mehr als schon das
Kanzlersystem für sich allein und stellte damit keine einfache
Aufgabe an die Konstruktion, welche auch dann nicht verschwen-
det ist, falls der praktische Erfolg mit dem äußern nicht Schritt
halten sollte; denn an sich ist die dafür gewonnene Fassung ge-
radezu mustergültig, um nicht zu sagen klassisch, wenn in diesen
heikeln Punkten mit Formeln geholfen wäre und man die poli-
tische Welt dahin bringen könnte, Zucht anzunehmen und sich
mit der Zuchtrute positiver Anweisungen regieren zu lassen.
Sicher wird es oft, in gewissem Sinne immer so sein, daß der
Reichskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt und dafür dem
Reichstage gegenüber die Verantwortung trägt, während innerhalb
dieser Richtlinien jeder Reichsminister den ihm anvertrauten Ge-
schäftszweig selbständig und unter eigener Verantwortung gegen-
über dem Reichstage führt (Art. 56). Aber was kann nicht alles in der
Politik zur Kabinettsfrage werden®® und wie sollen Kanzler und
s2 Vgl. WITTMAYER, Deutscher Reichstag und Reichsregierung, 8. 8 fl.
83 Vgl. bereits Deutscher Reichstag und Reichsregierung 8. 14 f.