— 433 —
Verantwortlichkeit zu messen gewesen, an der ja der Reichsprä-
sident, wie wir hörten, nicht bloß durch seine freie Absetzbarkeit,
sondern noch weit mehr bei der jeweiligen Einsetzung und Er-
haltung der Regierung höchst beteiligt ist. Einst als Schutz-
mittel einer Parlamentsmehrheit gegen eine wesensfremde über-
legene obrigkeitliche Macht könnte die alte juristische Verant-
wortlichkeitsklausel heute nur einer Minderheit dienen, wenn sie
nachträglich zur Mehrheit gelangt, und somit auch auf das eigene
engste Anwendungsgebiet beschränkt nur ein politisches Macht-
mittel bedeuten, nach welchem von hinterher kein großes Bedürf-
nis besteht. Ein allgemeineres Parlamentsinteresse an der Geltend-
machung eines solchen Kampfimittels wäre bloß im unwahrschein-
lichsten und unwirklichsten aller Fälle denkbar, daß auch die
Mehrheit gegen die Entrechtung und Bedrückung der aus ihr her-
vorgegangenen Regierung des Schutzes bedürftig wäre. Etwa
nach dem von WIESER entwickelten „Gesetz der Herrschaft der
Wenigen“ oder „Gesetz der kleinen Zahl“ *, das in unserem Falle
gleichsam das Parlament ebenso der Regierung ausliefern würde,
wie die Wählerschaft selbst schon nach Rousseau der Volksver-
tretung, weil immer der kleinere straffer organisierte Kreis dem
andern vorginge. Einem tüchtigen unternehmenden Juristen ge-
länge gewiß auch so eine Konstruktion!
Es liegt aber auf der Hand, daßgein für solche Konstruk-
tionen von weither ausgeborgtes Rechtsinstitut diesen fremden
Zwecken kaum nutzbar gemacht werden könnte und sich in dieser
Richtung um so mehr erübrigt, als ja damit nach seinem strengen
Sinne nur dort ein Schutz geboten wäre, wo das geringste Be-
dürfnis besteht. Wegen ausgesprochener Rechtswidrigkeiten be-
darf die größere Zahl eines solchen Schutzmittels nicht und es
täte weit eher not, um den vollen Einfluß der Reichstagsherr-
schaft in den intimeren Fragen der Reichsverwaltung und in
jedem Politikum zu wahren. Dafür gibt es aber heute, ganz ab-
“ Recht und Macht, Sechs Vorträge 1910, S. 9 ff.
Archiv des öffentlichen Rechts. XXXIX. 4. 99