— 457 —
wesen sei, habe man jetzt die bundesstaatliche Struktur des
Reichs und die Organisation seiner Gewalten in viel einfacheren
Linien gehalten. Die undurchsichtige Verquickung staatlicher
und föderativer Gedankeu sei bis auf geringe Reste verschwunden;
die neuen demokratischen, republikanischen und parlamentarischen
Einrichtungen seien fast durchweg nach bekannten westlichen
Mustern gestaltet worden.
Man kann von diesen Behauptungen manche zugeben. In
der Tat war die Auslegung der alten Verfassung keine leichte
Sache. Als Erzeugnis einer in vollendeter Meisterschaft ohne
Modell arbeitenden Staatskunst widersetzte sich Bismarcks Ver-
fassung der Auflösung in einfache juristische Formeln. Ihre
Redaktion war unleugbar schlecht, und es fehlte fast gänzlich an
„Gesetzesmaterialien*, deren man sich bei der Erklärung des
Wortlauts als Krücke hätte bedienen können. Denn der Ent-
wurf war dem konstituierenden Reichstage ohne Begründung vor-
gelegt worden, ein Mangel, der durch die wortkargen Protokolle
über die Vorberatung der verbündeten Regierungen nicht ersetzt
wurde. Auch hatte der Reichstag von 1867 den Entwurf ohne Kom-
missionsberatung behandelt, und so stand als äußeres Hilfsmittel zur
Interpretation nur das zu Gebote, was in den stenographischen
Berichten über die Plenarsitzungen enthalten war. Die Bearbeiter
der neuen Verfassung dagegen können sich auf eine schier über-
reiche Masse von Vor-, Zwischen- und endgültigen Entwürfen,
von Denkschriften und Parlamentsreden stützen, und es stehen
ihnen die ausführlichen Protokolle zur Verfügung, die über die
Verhandlungen des Verfassungsausschusses der Nationalversamm-
lung geführt worden sind.
Allein es ist trotz alledem sehr naiv, wenn man glaubt, es
werde nun mit der juristischen Erfassung des neuen Rechtsstoffs be-
sonders leicht bestellt sein. In Wahrheit gibt die Weimarer Ver-
fassung den Publizisten zwar andere, aber nicht weniger harte
Nüsse zu knacken als ihre Vorgängerin. Man braucht sich nur