Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 39 (39)

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wesen sei, habe man jetzt die bundesstaatliche Struktur des 
Reichs und die Organisation seiner Gewalten in viel einfacheren 
Linien gehalten. Die undurchsichtige Verquickung staatlicher 
und föderativer Gedankeu sei bis auf geringe Reste verschwunden; 
die neuen demokratischen, republikanischen und parlamentarischen 
Einrichtungen seien fast durchweg nach bekannten westlichen 
Mustern gestaltet worden. 
Man kann von diesen Behauptungen manche zugeben. In 
der Tat war die Auslegung der alten Verfassung keine leichte 
Sache. Als Erzeugnis einer in vollendeter Meisterschaft ohne 
Modell arbeitenden Staatskunst widersetzte sich Bismarcks Ver- 
fassung der Auflösung in einfache juristische Formeln. Ihre 
Redaktion war unleugbar schlecht, und es fehlte fast gänzlich an 
„Gesetzesmaterialien*, deren man sich bei der Erklärung des 
Wortlauts als Krücke hätte bedienen können. Denn der Ent- 
wurf war dem konstituierenden Reichstage ohne Begründung vor- 
gelegt worden, ein Mangel, der durch die wortkargen Protokolle 
über die Vorberatung der verbündeten Regierungen nicht ersetzt 
wurde. Auch hatte der Reichstag von 1867 den Entwurf ohne Kom- 
missionsberatung behandelt, und so stand als äußeres Hilfsmittel zur 
Interpretation nur das zu Gebote, was in den stenographischen 
Berichten über die Plenarsitzungen enthalten war. Die Bearbeiter 
der neuen Verfassung dagegen können sich auf eine schier über- 
reiche Masse von Vor-, Zwischen- und endgültigen Entwürfen, 
von Denkschriften und Parlamentsreden stützen, und es stehen 
ihnen die ausführlichen Protokolle zur Verfügung, die über die 
Verhandlungen des Verfassungsausschusses der Nationalversamm- 
lung geführt worden sind. 
Allein es ist trotz alledem sehr naiv, wenn man glaubt, es 
werde nun mit der juristischen Erfassung des neuen Rechtsstoffs be- 
sonders leicht bestellt sein. In Wahrheit gibt die Weimarer Ver- 
fassung den Publizisten zwar andere, aber nicht weniger harte 
Nüsse zu knacken als ihre Vorgängerin. Man braucht sich nur
	        
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