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gangenen Beschluß der Reichsregierung Bezug zu nehmen. Diese
Unterlassung ist in jedem Falle inkorrekt. Denn dem Reichstage muß
Kenntnis davon gegeben werden, daß dem Erfordernisse des Art. 57
Genüge geschehen ist. Aber auch im übrigen steht, wie ich glaube,
das Verfahren nicht im Einklange mit dem Geiste der Verfassung *.
Allerdings hat diese bekanntlich die Kollegialität des Gesamt-
ministeriums nur unvollkommen durchgeführt. Es sollte, wie man
sich in Weimar ausdrückte, eine „politische Kollegialität“ der
Reichsregierung bestehen; aber die Kollegialverfassung sollte nicht
als „juristische“ grundgesetzlich festgelegt werden. Insbesondere
wollte man nicht, daß dem Reichstage „ein in sich geschlossenes Kol-
legium im juristischem Sinne gegenüberstehe“‘, weil dies für die
Geltendmachung der Verantwortlichkeit seine Bedenken haben
würde ®. Allein in Wirklichkeit hat die Verfassung an einer
Reihe von Stellen der Reichsregierung Befugnisse zugeteilt, die
nach Wortlaut und Sinn des Gesetzes nur von der Regierung
als Kollegium wahrgenommen werden können. Daher ist der
Ausdruck „Reichsregierung* zwar vielfach im Sinne von „zu-
ständiger Minister* — so z. B. für die Ausübung des Ver-
ordnungsrechts nach Art. 77°?% —, anderwärts aber im Sinne
von „Gesamtkabinet“ zu verstehen; als Beispiel für das zweite
mag die Einberufung des Reichsrats nach Art. 64 oder die An-
ordnung der Volksabstimmung bei Gebietsveränderungen nach
Art. 18, Abs. 4 dienen. Nun ist aber die Einbringung eines
Gesetzentwurfs eine Aktion der Regierung, die immer — ohne
Rücksicht auf den Umfang und den Inhalt des Gesetzes — eine all-
zu bemerken, daß der Entwurf Nr. 226 vor Inkrafttreten der Verfassung
vorgelegt worden ist.
s Ebenso GIESE 8. 209. Anders PoETZScH S. 88.
35 Reichsminister PREUSS im Verfassungsausschuß, 5. Sitzg. vom 12. März
1919, S.3. — Daher nach Art. 56 die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers
für die Richtlinien der Politik, die Verantwortlichkeit des einzelnen Mini-
sters für den ihm anvertrauten Geschäftszweig.
ss PoxtzscH 8. 73, 93. — A. M. GIESE S. 228,