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Es ist Initiative genau in demselben Sinne wie die Initiative der
Reichsregierung oder des Reichsrats *.
Ob die Volksinitiative bei uns dieselbe Rolle spielen wird
wie in den vergleichsweise kleinen Staaten, deren Verfassungen
man die neue Einrichtung entlehnt hat, ist zweifelhaft. Legt man
die Listen zugrunde, die für die Wahlen zur Nationalversamm-
lung aufgestellt worden sind, so hätte man mit vierzig Millionen
Stimmberechtigter zu rechnen, und es würden sich daher nicht weniger
als vier Millionen Reichsbürger zu einem Volksbegehren zusam-
menfinden müssen. Auch bei Berücksichtigung der schweren Ver-
luste an Volkszahl, die uns die Erfüllung des Versailler Friedens
bringen wird, kämen wir doch immer noch auf eine Zahl von
etwa dreieinhalb Millionen. Abgesehen von der Umständlichkeit des
Verfahrens und den großen Kosten, die seine Durchführung verur-
sacht, wird es nicht immer leicht sein, eine solche Menge von Per-
sonen auf einen Antrag zu vereinigen. Zumal die Verfassung nur
“ Die schiefe Formulierung des Abs. 3 erklärt sich aus der Geschichte
seiner Entstehung Die beiden Anträge, die im Verfassungsausschusse
auf Einführung der Volksinitiative gestellt wurden (s. unten S. 495 Anm. 51),
gingen davon aus, daß die Initiative in jedem Falle zu einer Volksab-
stimmung führen müsse. Der Reichstag sollte nur das Recht der „Beratung“,
der „Verhandlung“ über den begehrten Entwurf haben. Darnach würde der
vom Reichstage festgestellte Gesetzestext in der Tat bloß ein Entwurf
gewesen sein. Das deckte sich mit der Auffassung, die man in der Schweiz
vom Wesen der Volksinitiative hat. Man faßt sie dort stets als Antrag
andas Volk auf, auch wenn der Antrag den Umweg über die Volks-
vertretung machen muß. Daher denn auch bei unveränderter Annahme
einer formulierten Initiative durch das Parlament die Volksabstimmung
fast überall obligatorisch ist. Vgl. z. B. HıuTy, Archiv f. öffentl. Recht 2,
S. 417. — KELLER, Das Volksinitiativrecht (1889), S. 57, 131. — Kuaus,
Die Frage der Volksinitiative in der Bundesgesetzgebung (Diss. Zürich 1906)
S. 4. — SCHOLLENBERGER, Das Recht 23 (1919), Sp. 5l. — S. auch SCHWARZ,
Grünhuts Zeitschr. 33, S. 405. Die Reichsverfassung von 1919 hat aber die
Sache anders konstruiert. Das Volksbegehren ist Initiative gegenüber dem
Reichstage, dem der Antrag durch Vermittelung der Reichsregierung
zugeht. (Dag Begehren ist nicht, wie GIEsE S. 218 annimmt, an den
Reichspräsidenten zu richten).