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Die Bestimmung bezweckt, dem Reichspräsidenten, der als der
Vertrauensmann des Volkes gilt, Gelegenheit zu geben, bei einem
Zwiespalte mit dem Reichstage an das Volk zu appellieren. Gleich-
wohl wird es nur selten vorkommen, daß der Präsident von sei-
nem Rechte Gebrauch macht. Denn er kann eine Volksabstim-
mung nur unter Gegenzeichnung des Ministeriums, d. h. in die-
sem Falle des Reichskanzlers anordnen (Art. 50, 56), und das Mini-
sterium wird in aller Regel mit dem Reichstage einig sein. Aber
das Gegenteil ist denkbar. Es kann sich ereignen, daß das Mini-
sterium und die Partei, aus der es hervorgegangen, bei der Schluß-
abstimmung über ein wichtiges Gesetz in die Minorität gedrängt wer-
den, und daß sich der Reichspräsident auf die Seite des Kabinetts und
der Minorität stellen will. Man wird sagen: in diesem Falle werde
er, da es sich ja offenbar um eine Prinzipienfrage handele, den
Reichstag auflösen. Aber erstlich wird das nicht immer der po-
litischen Gesamtlage entsprechen, und zweitens wird durch die
Auflösung der Gesetzesbeschluß des aufgelösten Reichstags nicht
erledigt. Er kann nur durch eine Volksabstimmung aus der Welt
geschafft werden ®!.
Eigentümliche Situationen können sich ergeben, wenn der
Reichspräsident an der Ausübung seines Amts verhindert ist und
durch den Reichskanzler oder einen andern Ersatzmann vertreten
wird (Art. 51); denn der Vertreter ist natürlich auch befugt, das
Recht des Präsidenten nach Art. 73, Abs. 1 währzunehmen. Es
würde zu weit führen, den Fragen, die sich dabei einstellen, nach-
zugehen : es werden vermutlich Doktorfragen bleiben.
2. Der zweite Fall, in dem ein Gesetzesbeschluß des Reichs-
tags ausgeschaltet werden kann, ist der des fakultativen Re-
ferendums (Art. 72, 73 Abs. 2). Nach der Verfassung kann
1 Gewöhnlich wird aber die Auflösung schon vor der Beendigung der
dritten Lesung erfolgen. Auch das nimmt der Sache zum großen Teil ihre
praktische Bedeutung. Vgl. zu der Angelegenheit die Rede des Abg. HEINZE,
Sitzg. der Nationalversammlung vom 7. Juli 1919, Sten. B. S. 1353.