Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 39 (39)

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viel ungeheuerlicher als die praktischen Mißstände, die das rich- 
terliche Prüfungsrecht angeblich nach sich zieht!®. Denn das 
richterliche Prüfungsrecht ist in der parlamentarischen Republik, 
wenn nicht der einzige, so doch der wichtigste Schutz der 
bürgerlichen Freiheit gegenüber einem machthungerigen Parla- 
mente. Es ist eine alte Wahrheit, daß der Ausschluß des 
richterlichen Prüfungsrechtes, um mit GNEIST zu sprechen, 
eine der Türen Öffnet, durch die sich der Absolutismus Ein- 
gang in den Staat verschafft. Ob es monarchischer oder parla- 
mentarischer Absolutismus ist, macht dabei wenig aus. Indem die 
parlamentarische Regierungsweise die Exekutive in vollkommene 
Abhängigkeit von der Volksvertretung bringt, bricht sie aus dem 
System des Gleichgewichts der Gewalten, das unzweifelhaft die beste 
Sicherung für die Freiheit des Staatsbürgers darstellt, einen wichtigen 
Pfeiler heraus. Beseitigt man jetzt auch das richterliche Prüfungs- 
recht, so ist ein weiterer Schutzwall der Freiheit vernichtet. Wenn 
der deutsche Reichstag mit vollkommener Souveränität darüber ent- 
scheiden darf, ob sich seine Gesetzesbeschlüsse mit der Verfas- 
sung im Einklange befinden, so ist vor allem ein großer Teil der 
Grundrechte seines verfassungsmäßigen Schutzes beraubt. 
Denn was will die Aufnahme der Grundrechte in die Verfassung 
anderes bedeuten, als daß in bezug auf sie der einfachen Gesetz- 
100 Man betrachtet es als unerträglich, daß die verschiedenen Gerichte 
über die Verfassungsmäßigkeitder Gesetze verschiedene Urteile fällen könnten. 
Als ob das unerträglicher wäre wie die alltägliche Erscheinung, daß ein Gesetz 
von verschiedenen Gerichten verschieden ausgelegt wird! Und als ob es 
unerträglicher. wäre als die häufigen Differenzen der Gerichte über die 
Gültigkeit von Verordnungen, denen gegenüber man das richterliche 
Prüfungsrecht doch nicht in Abrede stellt! — LABAND und seine Anhänger 
sagen, die Konsequenz der Anerkennung des richterlichen Prüfungsrechts'müsse 
sein, daß auch die Verwaltungsbehörden und die einzelnen Bürger die Ver- 
fassungsmäßigkeit der Gesetze prüfen dürften. Gewiß dürfen sie das tun! 
Aber was soll darin für ein Mißstand liegen? Natürlich handelt hier jeder 
auf seine Gefahr. Ob er ım Rechte oder im Irrtum ist, wenn er die Ver- 
fassungsmäßigkeit leugnet, wird sich bei der Nachprüfung seines Ver- 
haltens durch die vorgesetzte Behörde oder das Gericht herausstellen.
	        
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