gebung, nicht nur der der Einzelstaaten, sondern auch der des Reichs,
eine Schranke gezogen sein soll!®*? Oder glaubt man, daß der
Reichspräsident ein Organ sei, dem man getrost die Prü-
fung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes und deren authenti-
sche Feststellung überlassen dürfe — der Reichspräsident, den
doch die Verfassung in die vollkommenste Abhängigkeit vom
Reichstage gebracht hat? Der Mehrzahl unserer Politiker und
Juristen ist es noch nicht genügend zum Bewußtsein gekommen,
daß Einrichtungen, die unter der konstitutionellen Monarchie er-
träglich sein mochten, in der parlamentarischen Republik schlechter-
dings unerträglich sein können !®,
2. Mit der Verkündigung des Gesetzes, die Art, 70
dem Reichspräsidenten zuweist, ist nicht der mechanische Vor-
gang des Abdrucks im Reichsgesetzblatte gemeint, sondern — im
Anschlusse an das Vorbild der kaiserlichen Verkündigung nach
109° LENEL, Ueber die Reichsverfassung (Freiburg i. B. 1920) S. 30 ff.
meint, es würde zu grenzenloser Rechtsunsicherheit führen, wenn der
Richter die Reichsgesetze auf ihre Uebereinstimmung mit den Grundrechten
prüfen dürfe. Denn die Mehrzahl der grundrechtlichen Artikel bestehe
aus ganz unbestimmten Gesetzespromessen, und jeder Versuch, diese von
den Artikeln mit echtem Gesetzescharakter abzuscheiden, müsse eine Menge
von Zweifeln emporschießen lassen und dadurch den festen Rechtsboden
untergraben. Aber die unleugbar sehr große Schwierigkeit, die „disposi-
tiven® und die bloß „enunziativen“ Bestandteile des Abschnitts über die
Grundrechte von einander zu sondern, ändert nichts an der Tatsache, daß
die dispositiven Artikel verfassungsrechtliche Schranken für die gewöhn-
liche Gesetzgebung darstellen, und daß ein Gesetz, das die Schranken
durchbricht, ungültig ist. Soll nun wirklich der Richter verpflichtet sein,
Gesetze anzuwenden, die er als ungültig erkennt ?
110 Es versteht sich von selbst, daß die grundsätzliche Anerkennung
des richterlichen Prüfungsrechts nicht die Behauptung in sich schließt,
daß ihm keine Grenzen gezogen seien. Solche Grenzen gibt es un-
zweifelhaft, und sie bedürfen genauerer Feststellung. Insbesondere ist mit
Rücksicht auf RV. Art. 9,.10 zu prüfen, ob und inwieweit die richterliche
Prüfung durch ein freies Ermessen des Gesetzgebers in bezug auf das
„Bedürfnis“ (Art. 9) und auf den Umfang des Begriffs der „Grundsätze“
(Art. 10) gebunden wird. Diese Untersuchung kann hier nicht angestellt
werden.