Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 39 (39)

gebung, nicht nur der der Einzelstaaten, sondern auch der des Reichs, 
eine Schranke gezogen sein soll!®*? Oder glaubt man, daß der 
Reichspräsident ein Organ sei, dem man getrost die Prü- 
fung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes und deren authenti- 
sche Feststellung überlassen dürfe — der Reichspräsident, den 
doch die Verfassung in die vollkommenste Abhängigkeit vom 
Reichstage gebracht hat? Der Mehrzahl unserer Politiker und 
Juristen ist es noch nicht genügend zum Bewußtsein gekommen, 
daß Einrichtungen, die unter der konstitutionellen Monarchie er- 
träglich sein mochten, in der parlamentarischen Republik schlechter- 
dings unerträglich sein können !®, 
2. Mit der Verkündigung des Gesetzes, die Art, 70 
dem Reichspräsidenten zuweist, ist nicht der mechanische Vor- 
gang des Abdrucks im Reichsgesetzblatte gemeint, sondern — im 
Anschlusse an das Vorbild der kaiserlichen Verkündigung nach 
  
  
109° LENEL, Ueber die Reichsverfassung (Freiburg i. B. 1920) S. 30 ff. 
meint, es würde zu grenzenloser Rechtsunsicherheit führen, wenn der 
Richter die Reichsgesetze auf ihre Uebereinstimmung mit den Grundrechten 
prüfen dürfe. Denn die Mehrzahl der grundrechtlichen Artikel bestehe 
aus ganz unbestimmten Gesetzespromessen, und jeder Versuch, diese von 
den Artikeln mit echtem Gesetzescharakter abzuscheiden, müsse eine Menge 
von Zweifeln emporschießen lassen und dadurch den festen Rechtsboden 
untergraben. Aber die unleugbar sehr große Schwierigkeit, die „disposi- 
tiven® und die bloß „enunziativen“ Bestandteile des Abschnitts über die 
Grundrechte von einander zu sondern, ändert nichts an der Tatsache, daß 
die dispositiven Artikel verfassungsrechtliche Schranken für die gewöhn- 
liche Gesetzgebung darstellen, und daß ein Gesetz, das die Schranken 
durchbricht, ungültig ist. Soll nun wirklich der Richter verpflichtet sein, 
Gesetze anzuwenden, die er als ungültig erkennt ? 
110 Es versteht sich von selbst, daß die grundsätzliche Anerkennung 
des richterlichen Prüfungsrechts nicht die Behauptung in sich schließt, 
daß ihm keine Grenzen gezogen seien. Solche Grenzen gibt es un- 
zweifelhaft, und sie bedürfen genauerer Feststellung. Insbesondere ist mit 
Rücksicht auf RV. Art. 9,.10 zu prüfen, ob und inwieweit die richterliche 
Prüfung durch ein freies Ermessen des Gesetzgebers in bezug auf das 
„Bedürfnis“ (Art. 9) und auf den Umfang des Begriffs der „Grundsätze“ 
(Art. 10) gebunden wird. Diese Untersuchung kann hier nicht angestellt 
werden.
	        
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